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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0604
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584 Jenseits von Gut und Böse

208 vom Erstarken Russlands erhofft - jene starke Skepsis ermöglichen, deren
Hauptcharakteristika nicht Willenslähmung und Urteilsenthaltung, sondern
gerade Willensstärke und Urteilsbereitschaft sind - im Wissen darum, dass es
für kein Urteil eine letzte Rechtfertigung gibt, die außerhalb des individuellen
Wollens in irgendeiner vorgeblichen metaphysischen Wahrheit liegt. Aller-
dings läuft diese starke Skepsis nicht nur Gefahr, mit der schwachen verwech-
selt zu werden, wie es nach JGB 209 Friedrich Wilhelm I. ergangen ist, als er
seinen Sohn der Schwäche und der Leichtlebigkeit des französischen Atheis-
mus verfallen glaubte. Diese starke Skepsis scheint selbst in der schwachen
zu gründen, gegen die das wortführende „Ich“ fortwährend polemisiert. Beim
Kronzprinzen Friedrich ist der gegebenen Schilderung zufolge die neue, starke
Skepsis erst im Laufe seines Kampfes gegen den unerbittlichen Willen des Va-
ters entstanden, und zwar auf dem Boden der Rezeption »schwacher4 französi-
scher Freigeisterei. Nimmt man diese versteckte Genealogie der starken Skepsis
ernst, dann erscheint die in JGB 208 gegeißelte Willensschwäche als notwendi-
ges Durchgangsstadium auf dem Weg zur neuen Stärke des Willens. JGB 209
beschreibt, wie sich - aus der Schwäche, die ein starker Gegenwille zum eige-
nen Willen zwingt - „allmählich“ „ein neuer Begriff vom deutschen Geiste“
gebildet habe, trotz aller „Romantik“ (141, 25-27). Dass mit der harten Skepsis
die deutsche Kultur wieder den Anschluss an überzeitliche Größe gefunden
hat, verdichtet das geistig-militärische Gipfeltreffen von Napoleon und Goethe
am Schluss in einer Sentenz (nach Sommer 2007). Vgl. Stegmaier 2012, 340-
342.
JGB 209 dürfte Thomas Mann bei seinem nicht realisierten Friedrich-
Romanprojekt von 1905/06 (Wysling 1976, 30 f.) und/oder bei seinem Essay
Friedrich und die große Koalition (1914) wesentlich inspiriert haben (Kluge 1999,
272-274).
140, 20-141, 7 Jener unbedenkliche Enthusiast für schöne grossgewachsene Gre-
nadiere, welcher, als König von Preussen, einem militärischen und skeptischen
Genie — und damit im Grunde jenem neuen, jetzt eben siegreich heraufgekomme-
nen Typus des Deutschen — das Dasein gab, der fragwürdige tolle Vater Fried-
richs des Grossen, hatte in Einem Punkte selbst den Griff und die Glücks-Kralle
des Genies: er wusste, woran es damals in Deutschland fehlte, und welcher Man-
gel hundert Mal ängstlicher und dringender war, als etwa der Mangel an Bildung
und gesellschaftlicher Form, — sein Widerwille gegen den jungen Friedrich kam
aus der Angst eines tiefen Instinktes. Männer fehlten; und er argwöhnte zu
seinem bittersten Verdrusse, dass sein eigner Sohn nicht Manns genug sei. Darin
betrog er sich: aber wer hätte an seiner Stelle sich nicht betrogen? Er sah seinen
Sohn dem Atheismus, dem esprit, der genüsslichen Leichtlebigkeit geistreicher
Franzosen verfallen: — er sah im Hintergründe die grosse Blutaussaugerin, die
 
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