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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0617
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Stellenkommentar JGB 212, KSA 5, S. 145 5 97

nöthig, indem einem solchen Auserkorenen unbewusst die Gesetze der Welt
und die Erkenntniss für die Bedürfnisse seiner Zeit innewohnen. Er ist ein
Oedipus, in dem jedes Räthsel seine Lösung findet.“ (Bleibtreu 1886b, 92; ähn-
lich Bleibtreu 1886a, 92) Wenn JGB 211 demgegenüber die Philosophen als Ge-
setzgeber reinstallisiert, konterkariert dies nicht einfach die zeitgenössischen
Hoffnungen auf den Künstler, sondern amalgamiert den Künstler mit dem „ei-
gentlichen“ Philosophen. Zum Philosophen als Gesetzgeber vgl. Simon 1992,
ferner Drochon 2010, 673 u. Witzler 2001, 198.
145,14-16 Ihr „Erkennen“ ist Schaffen, ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung,
ihr Wille zur Wahrheit ist — Wille zur Macht.] Vgl. NK 15, 4. Im Sechsten
Hauptstück kommt der „Wille zur Macht“ nur an dieser Stelle explizit vor, er-
scheint hier jedoch nicht als allgemeines ontologisches Prinzip, als finaler Be-
zugspunkt eines angemessenen Wirklichkeitsverständnisses, sondern als Cha-
rakterzug der gesetzgebenden „eigentlichen Philosophen“ (145, 7).
Dass ihr „Wille zur Wahrheit [...] Wille zur Macht“ sei, impliziert wieder-
um, dass sich dies bei den „philosophischen Arbeitern“, von denen der erste
Teil des Abschnitts 211 handelt, anders verhalte.
145, 16-18 Giebt es heute solche Philosophen? Gab es schon solche Philoso-
phen? Muss es nicht solche Philosophen geben? ....] Nach Nehamas 1988, 59
sollen diese Fragen, insbesondere die letzte, den Leser dazu anstacheln, zu-
rückzufragen, nämlich: Warum? Warum muss es solche Philosophen geben?
Die Antwort, die sich der Leser auf die Warum-Frage gebe, sei: „There must be
such philosophers because I am in the process of engaging with one right now,
as I am reading this work.“ (Ebd.) Nehamas sieht den „narrator“ N. also schon
in der Rolle des Zukunftsphilosophen.
212.
JGB 212 will demonstrieren, wie sehr die Selbstermächtigung der Philosophen
dem Zeitgeist zuwiderläuft. Philosophisches Dasein sei dadurch charakteri-
siert, dass es sich in allen Punkten gegen die herrschenden Ideale stemme.
Dabei können diese Ideale höchst unterschiedlich, ja einander entgegengesetzt
sein, wie das Beispiel Sokrates zeigt, der als ,,Pöbelmann[.]“ (146, 32) gegen
den müden Aristokratismus seiner Zeit agitiert habe, während heute, „wo in
Europa das Heerdenthier allein zu Ehren kommt“ (147, 2f.), das „Vornehm-
sein“ (147, 9) erst ,„Grösse‘“ (147, 11) ausmache. Philosophie ist also zeitbe-
dingt, fasst aber nicht einfach die eigene Zeit in Gedanken, sondern soll von
einer in der Gegenwart vorweggenommenen Zukunft bestimmt werden. Die Zu-
kunft möchte das wortführende „Ich“ mit seinem Willen gestalten, ohne dass
 
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