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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0619
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Stellenkommentar JGB 212, KSA 5, S. 145-146 599

146, 7-12 Angesichts einer Welt der „modernen Ideen“, welche Jedermann in
eine Ecke und „Spezialität“ bannen möchte, würde ein Philosoph, falls es heute
Philosophen geben könnte, gezwungen sein, die Grösse des Menschen, den Be-
griff „Grösse“ gerade in seine Umfänglichkeit und Vielfältigkeit, in seine Ganzheit
im Vielen zu setzen] Zu den „modernen Ideen“ siehe NK 23, Dem Spezia-
listentum als Krankheit einer arbeits- und aufgabenteiligen Gesellschaft wird
hier ein Muster entgegengesetzt, welches an das des uomo universale der Re-
naissance erinnert, das N. prominent in Jacob Burckhardts Cultur der Renais-
sance in Italien begegnet ist: „Wenn nun dieser Antrieb zur höchsten Ausbil-
dung der Persönlichkeit zusammentraf mit einer wirklich mächtigen und dabei
vielseitigen Natur, welche sich zugleich aller Elemente der damaligen Bildung
bemeisterte, dann entstand der ,allseitige Mensch4, l’uomo universale, welcher
ausschließlich Italien angehört. [...] In dem Italien der Renaissance [...] treffen
wir einzelne Künstler, welche in allen Gebieten zugleich lauter Neues und in
seiner Art Vollendetes schaffen und dabei noch als Menschen den größten Ein-
druck machen. Andere sind allseitig, außerhalb der ausübenden Kunst, eben-
falls in einem ungeheuer weiten Kreise des Geistigen“ (Burckhardt 1869b, 109.
N.s Unterstreichung). Vgl. NK 136, 21.
146, 17-20 Nichts ist so sehr zeitgemäss als Willensschwäche: also muss, im
Ideale des Philosophen, gerade Stärke des Willens, Härte und Fähigkeit zu langen
Entschliessungen in den Begriff „Grösse“ hineingehören] „Willensschwäche“ war
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowohl medizinisch als auch histo-
risch und zeitkritisch eine häufige Diagnose: In dem von N. gern konsultierten
Buch vom gesunden und kranken Menschen von Carl Ernst Bock wurden gegen
die „Willensschwäche“ „Bewegungskuren“ verordnet (Bock 1870, 446), wäh-
rend August Krauss in seiner Psychologie des Verbrechens „Willensschwäche“
als Folge des Alkoholismus behandelte (Krauss 1884, 69). Otto Caspari räso-
nierte in seiner Urgeschichte der Menschheit über die evolutionären Vor- und
Nachteile von „Willensstärke“ und „Willensschwäche“, um zu schlussfolgern:
„Willensschwäche ebenso wie zu große Gefühlsempfindung werden daher kei-
nen Anspruch darauf haben, den Sieg im Kampfe ums Dasein zu erringen“
(Caspari 1877, 1, 98), während William Edward Hartpole Lecky in seiner Ge-
schichte des Ursprungs und Einflusses der Aufklärung die Königs- und Tyran-
nenmorde der Geschichte auch unter dem Einfluss „natürlicher Willensschwä-
che“ behandelte (Lecky 1873, 2, 125. N.s Unterstreichung). An sich ist das Pro-
blem der Willensschwäche unter der Bezeichnung ÜKpaoia seit Platon und
Aristoteles ein die Philosophie nachhaltig beschäftigendes Problem. Denn wie
kann es sein, dass Menschen etwas nicht tun, was sie als das Gute erkannt
haben (vgl. z. B. Aristoteles: Nikomachische Ethik VII1-11, bes. VII3,1145b)? N.
benutzte den deutschen Ausdruck erstmals in NL 1878, KSA 8, 29[46], 519, 18-
 
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