Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0621
License: In Copyright
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Stellenkommentar JGB 212, KSA 5, S. 146-147 601

Pate für die untertreibende Abweichung vom Wahrhaftigen, die jedoch auch
als vornehme (!) Dissimulation gelten kann (vgl. Aristoteles: Nikomachische
Ethik 1108a u. 1127a). Sokrates avancierte so zum Prototypen des Ironikers, vgl.
z. B. Schopenhauer 1873-1874, 3, 109: „Versteckt nun aber der Scherz sich hin-
ter den Ernst; so entsteht die Ironie; z.B. wenn wir auf die Meinungen des
Andern, welche das Gegentheil der unserigen sind, mit scheinbarem Ernst ein-
gehen und sie mit ihm zu theilen simuliren; bis endlich das Resultat ihn an
uns und ihnen irre macht. So verhielt sich Sokrates dem Hippias, Protagoras,
Gorgias und andern Sophisten, überhaupt oft seinem Collocutor gegenüber.“
Das negative Resultat der ironischen Operation, die JGB 212 mit dem Schneiden
ins eigene und fremde Fleisch vergleicht, ist ein Gemeinplatz der N. geläufigen
Handbuchliteratur zu Sokrates, so etwa bei Ueberweg 1867, 1, 98: „An sein
eingestandenes Nichtwissen, welches doch, auf dem strengen Bewusstsein von
dem Wesen des wahren Wissens beruhend, höher stand, als das vermeintliche
Wissen der Mitunterredner, knüpft sich die Sokratische Ironie fripcovcia), die
scheinbare Anerkennung, die der überlegenen Einsicht und Weisheit des An-
dern so lange gezollt wird, bis dieselbe bei der dialektischen Prüfung,
die das behauptete Allgemeine an feststehendem Einzelnem misst, sich in ihr
Nichts auflöst“ (siehe auch Grote 1850-1856, 4, 655 f.; Zeller 1859, 2, 88 f. u.
Dühring 1873, 86). Der Passus 146, 25-147,1 spielt selber ironisch mit der Sokra-
tischen Ironie, wenn er deren Quintessenz folgendermaßen auf den Punkt
bringt: „verstellt euch vor mir nicht! Hier — sind wir gleich!“, stellt Verstellung
doch gerade die eigentliche Methode der Ironie dar. Ironie verbirgt Größe -
und JGB 212 räumt bereitwillig ein, dass sie zu bestimmten Zeiten zur „Größe
der Seele“ eines Philosophen beigetragen haben kann - ohne dies für die Phi-
losophen der Gegenwart oder Zukunft in gleicher Weise zu postulieren. Da
scheinen andere, nicht-ironische Qualitäten (stärker) gefragt.
147,14 f. jenseits von Gut und Böse] Die Titelformel des Werkes, „jenseits von
Gut und Böse“, kommt im Text des Werkes insgesamt sechsmal vor, nämlich
in JGB 4, KSA 5, 18, 20; JGB 44, KSA 5, 62, 10 f.; JGB 56, KSA 5, 74, 30; JGB 153,
KSA 5, 99, 20 f.; JGB 212, KSA 5, 147, 14 f. und JGB 260, KSA 5, 210, 34.
147, 17f. Und nochmals gefragt: ist heute — Grösse möglich?] Statt dieses
Satzes, der im Druckmanuskript fehlte, wurde dort das Folgende gestrichen:
„der Proteus eines neuen Auges, der Taucher des Lebens, der ungefährlich in
immer neue Tiefen des Lebens taucht. Und nochmals gefragt: ist gerade heute
der Philosoph noch möglich? ist heute solch eine Größe noch möglich?-
Aber nochmals gesagt: wie ist dergleichen heute möglich?“ (KSA 14, 364). Der
Meeresgott Proteus hat bekanntlich die Fähigkeit zur steten Selbstverwand-
lung; nur wer seiner habhaft wird, kann ihn zu den sehr begehrten, weil treffsi-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften