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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0627
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Stellenkommentar JGB 214, KSA 5, S. 151 607

den Tugendglauben von sich geworfen haben mögen, würden sich mit den
herrschenden Überzeugungen des heutigen Europa solidarisieren.
151, 16-18 suchen wir einmal nach ihnen in unsren Labyrinthen! — woselbst
sich, wie man weiss, so mancherlei verliert, so mancherlei ganz verloren geht] Im
exemplarischen Labyrinth, demjenigen des Minotauros auf Kreta, geht verlo-
ren, wer über keinen Ariadne-Faden verfügt. N. war in die Vorstellung vom
Philosophen als Labyrinthgänger geradezu vernarrt, vgl. NK 48, 1-6.
151, 18-24 Und giebt es etwas Schöneres, als nach seinen eigenen Tugenden
suchen? Heisst dies nicht beinahe schon: an seine eigne Tugend glauben?
Dies aber „an seine Tugend glauben“ — ist dies nicht im Grunde dasselbe, was
man ehedem sein „gutes Gewissen“ nannte, jener ehrwürdige langschwänzige
Begriffs-Zopf, den sich unsre Grossväter hinter ihren Kopf, oft genug auch hinter
ihren Verstand hängten?] Wer etwas sucht, der glaubt gemeinhin an die Exis-
tenz des Gesuchten - das tun insbesondere die Gottsucher, mit denen die Tu-
gendsucher hier implizit analogisiert werden. In der Tradition der praktischen
Philosophie Kants rückten die „Tugend“ und der Glaube daran an die Stelle
des Gottesglaubens, wenn man beispielsweise einem „Zweifler“ wie Theodor
in de Wettes gleichnamigem Roman trauen darf, der an Kants Sittenlehre kein
Genügen findet: „Der Mensch ist dadurch doch eigentlich auf sich selbst gewie-
sen, und nur wenn er an sich selbst und an seine Tugend glaubt, glaubt er
auch an Gott. Auch ist dieser Glaube mehr erdacht und ein Werk des Verstan-
des, als eine lebendige Kraft“ (Wette 1828, 166. Zu N. und de Wette vgl. NK 72,
26-73, 3). Der Glaube an die (eigene) Tugend erscheint in JGB 214 als Relikt der
Vergangenheit, welches das „Wir“ bei der Suche nach seiner eigenen Tugend
noch nicht abgestreift hat: Zwar werden „unsere Tugenden“ inhaltlich erklär-
termaßen nicht mehr diejenigen der „Grossväter“ sein, aber formal bleibt das
„Wir“ an das Ideal einer Tugend, an einen Tugendglauben gebunden. Auch
wenn es sich als „Erstlinge des zwanzigsten Jahrhunderts“ bezeichnet, verharrt
das „Wir“ in der Struktur seines Tugendstrebens doch im Hergebrachten,
„auch wir noch tragen ihren Zopf“ (152, 2). Das „Wir“ ist selbstkritisch genug,
seine eigene Befangenheit im Alten schonungslos offenzulegen; künftige Philo-
sophen werden anders sein (vgl. 152, 2 f. u. Strauss 1983,188: „But ,our virtues4
are not the virtues of the philosopher of the future“).
Vorüberlegungen zum Thema von JGB 214 hat bereits NL 1880, KSA 9,
6[173], 241 angestellt (vgl. zu diesem Notat Brusotti 1997,144), jedoch in unver-
hohlen denunziatorischer Absicht: Zunächst handelt das Notat von denjeni-
gen, die „alles sofort unter dem Gesichtspunkt des Löblichen und Tugendhaf-
ten [...] sehen: sie sind vollendet in ihrer Unredlichkeit gegen sich und präsen-
tiren in der Gesellschaft das ,gute Gewissen4. Andere sind höher, aber ihr
 
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