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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0639
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Stellenkommentar JGB 222, KSA 5, S. 156 619

N. nicht nur aus seiner Beschäftigung mit Pascal, sondern aus der gesamten
christlichen Tradition von Paulus über Augustin bis Luther wohlbekannt (vgl.
NL 1885/86, KSA 12, 1[5], 12, 2 = KGW IX 2, N VII 2, 167, 40); entsprechend
häufig kam er darauf zu sprechen. JGB 222 handelt allerdings nicht von der
christlichen Vergangenheit, sondern von der Gegenwart, in der sich hinter der
grassierenden Religion des Mitleidens die Selbstverachtung verberge - und
zwar nicht, so wird man ergänzen müssen, die Selbstverachtung des über seine
Erbsündenverfallenheit zerknirschten Christenmenschen, sondern die Selbst-
verachtung des explizit genannten ,,Mensch[en] der »modernen Ideen“4 (156,
30). Dieser leide an sich selbst, projiziere dieses Leiden aber aus „Eitelkeit“
(156, 32) auf andere, so „dass er nur ,mit leidet“4 (156, 32). Die moderne Kon-
junktur des Mitleids hinge damit an der gegenüber sich selber nicht ehrlichen
Selbstverachtung, während die Christen noch ganz ehrliche Selbstverächter ge-
wesen wären. Das Mitleid der christlichen Tradition und dasjenige der Moderne
hätten damit andere Motivationshintergründe. Für „unsere Tugenden“ mag da-
raus folgen, dass man die Selbstverachtung oder doch wenigstens die Unred-
lichkeit im Umgang mit ihr zu bekämpfen habe. Zur Interpretation von JGB 222
siehe Wotling 2008, 25 f.
156, 20 f. Wo heute Mitleiden gepredigt wird — und, recht gehört, wird jetzt keine
andre Religion mehr gepredigt] Vgl. NK 125, 22-26.
156, 25-29 Sie gehört zu jener Verdüsterung und Verhässlichung Europa’s, wel-
che jetzt ein Jahrhundert lang im Wachsen ist (und deren erste Symptome schon
in einem nachdenklichen Briefe Galiani’s an Madame d’Epinay urkundlich ver-
zeichnet sind)] Gemeint sein könnte der von N. mit Randstrich markierte Brief
Galianis an Madame Louise d’Epinay vom 18. 05.1776 (im Horizont des Ameri-
kanischen Unabhängigkeitskrieges): „Tite-Live disait pourtant de son siede
(qui ressemblait si fort au nötre): ,Ad haec tempora ventum est, quibus nec vitia
nostra nec remedia pati possumus/ On est dans un siede oü les remedes nui-
sent au moins autant que les vices. Savez-vous ce que c’est? L’epoque est venue
de la chute totale de l’Europe et de la transmigration en Amerique. Tout tombe
en pourriture ici: religion, lois, arts, Sciences; et tout va se rebätir ä neuf en
Amerique. Ce n’est pas un badinage, ceci, ni une idee tiree des querelles an-
glaises: je l’avais dit, annonce, preche il y a /226/ plus de vingt ans: et j’ai vu
toujours mes propheties s’accomplir“ (Galiani 1882, 2, 225 f. „Titus Livius sagte
jedoch von seinem Jahrhundert (das unserem so stark ähnelte): ,Bis diese Zei-
ten herangerückt sind, in denen wir weder unsere Laster noch die Gegenmittel zu
ertragen vermögen/ [Originaler Wortlaut bei Livius: Ab urbe condita I, praetatio
9: „donec ad haec tempora quibus nec vitia nostra nec remedia pati possumus
perventum est.“] Wir sind in einem Jahrhundert, wo die Heilmittel mindestens
 
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