Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0641
License: Free access  - all rights reserved
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Stellenkommentar JGB 223, KSA 5, S. 157 621
aus dem Glauben, daß Alles dem Urtheile eines Jeden freisteht.“ „Das
Merkmal des großen Menschen war die tiefe Einsicht in die moralische Hypo-
crisie von Jedermann (zugleich als Consequenz des Plebejers, der ein Kostüm
sucht).“
So sehr JGB 223 an N.s Kritik der historischen Krankheit, des überbor-
denden und lebensabträglichen Interesses am Vergangenen in UB II HL
anschließt (vgl. z. B. Müller-Lauter 1971, 47), die JGB 224 noch erweitert,
verarbeitet dieser Abschnitt doch offenkundig zur Hauptsache einen jünge-
ren Lektüreindruck, nämlich aus dem dritten Band von Hippolyte Taines
Geschichte der englischen Literatur, genauer: aus dem Kapitel über die ro-
mantische Schule. Deren Vertreter „übersprangen die ganze classische Bil-
dung, um ihre Vorbilder der Zeit der Renaissance und dem Mittelalter zu ent-
nehmen“ (Taine 1880a, 3, 45); es entstand „ein sonderbares Gemisch unklarer
Versuche, offenbarer Fehlgeburten und origineller Erfindungen. Der von dem
aristokratischen Kostüm befreite Plebejer suchte sich ein anderes, entlieh ei-
nen Theil eines Gewandes den Rittern oder den Barbaren, einen anderen Theil
den Bauern oder den Journalisten, ohne den auffallenden Kontrast allzusehr
zu bemerken; er war eingebildet und befriedigt in seinem bunten und schlecht
genähten Mantel, bis daß er endlich nach mancherlei Versuchen und Rissen
zur Selbsterkenntniß kam und die Kleidung wählte, die für ihn paßte.“ (Ebd.,
46) Die „Idee“ der damals entstandenen „historischen Poesie“ (ebd.) „besteht
in der Behauptung oder vielmehr in der Ahnung, daß unser Ideal nicht das
Ideal ist: es ist ein Ideal, aber es gibt deren noch andere. Der Barbar, der Lehns-
mann, der Cavalier der Renaissance, der Muselmann, der Indier, jede Zeit und
jede Rasse hat ihre Schönheit gehabt, die eine Schönheit ist. Genießen wir die-
selbe und setzen wir uns zu dem Behufe an die Stelle derer, die sie erfunden
haben“ (ebd., 47). „Nach und nach sah man damals auf dem literarischen
Schauplatze die dahin geschwundenen oder ferneren Culturen erscheinen, das
Mittelalter zunächst und die Renaissance, dann Arabien, Hindostan und Persi-
en, dann das classische Zeitalter und das achtzehnte Jahrhundert selbst, und
der historische Geschmack ward so lebendig, daß von der Literatur aus auch
die anderen Künste davon ergriffen wurden.“ Die folgenden Sätze hat N. mit
einem langen Randstrich markiert: „Das Theater vertauschte seine conventio-
nellen Costüme und Dekorationen mit wahren und echten. Die Baukunst er-
richtete römische Villen in unseren nördlichen Ländern und feudale Thürme
mitten in moderner Sicherheit. Die Maler gingen auf Reisen, um die locale Fär-
bung nachzuahmen, und studirten, um die moralische Färbung wiederzuge-
ben. Jedermann war Tourist und Archäolog; der menschliche Geist, der aus
seinen individuellen Gefühlen heraustrat, um sich in alle wirklich empfunde-
nen, ja schließlich in alle möglichen Gefühle einzuleben, fand sein Vorbild
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften