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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0643
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Stellenkommentar JGB 224, KSA 5, S. 157 6 23

religiöse Zeremonien zuletzt als abergläubische unverstandene Prozeduren üb-
rigbleiben, so wird die Geschichte überhaupt, wenn sie nur noch gewohnheits-
mäßig fortlebt, dem magischen Unsinn oder (der} carnevalistischen Verklei-
dung ähnlich. [...] Jetzt bewegte sich in Neapel ein katholischer prunkhafter
Leichenwagen mit Gefolge in einer der Nebengassen, während in unmittelbarer
Entfernung der Carneval tobte: alle die bunten Wagen, welche die Kostüme
und den Prunk früheren Culturen nachmachten. Aber auch jener Leichenzug
wird irgendwann einmal ein solcher historischer Carnevalszug sein; die bunte
Schale bleibt zurück und ergötzt, der Kern ist entflohn oder es hat sich wie in
den Kunstgriffen der Priester zur Erweckung des Glaubens die betrügerische
Absicht hinein versteckt.“
157, 21 aristophanischen Welt-Verspottung] In den Werken des athenischen Ko-
mödiendichters Aristophanes ist die Verspottung in der Mischung von Heiter-
keit und Ernst (onouöaioyEAoiov) eine dominierende Praxis, vgl. die Beiträge
in Ercolani 2002. Zu N. und Aristophanes siehe z. B. NK 46, 10-20; NK KSA 1,
76, 6f. u. NK KSA 1, 88, 22-28.

224.
Eine Vorstufe zu JGB 224 teilt KSA 14, 364 aus Wil mit: „Unser histori-
scher Sinn ist eine Folge unserer Halb-Barbarei: diese durch den plebe-
jischen Charakter unserer gebildeten Stände. Damit vermögen wir den größ-
ten Theil des Vergangnen nachzuempfinden, weil es fast immer halbbarbarisch
zugegangen ist: unser Höchstes ist Homer und Shakespeare (dieser spanisch-
maurisch-sächsisch) Aber unzugänglich bleiben uns die gelungensten
Werke und Menschen zb. Corneille, Racine, Sophocles usw. - die eigentlich
vornehmen Werke und Menschen, wo große Kraft vor allem Maaßlosen ste-
henbleibt und die feine Lust in der Bändigung und im zitternden Feststehen,
gleich dem Reiter auf vorwärts schnaubendem Rosse.“ Die Grundkonstellation
behält die Druckfassung von JGB 224 bei, mildert jedoch den invektivischen
Ton ab und erörtert die Vorzüge des „historischen Sinns“ mit einigem Wohl-
wollen. Er gehört, obwohl „ein unvornehmer Sinn“ (158, 20), als „Sinn und
Instinkt für Alles“ (158, 19) unter den prekären Bedingungen der Gegenwart
offensichtlich, faute de mieux, auch zu „unseren Tugenden“.
Bemerkenswert ist die semantische Differenz bei Bildgleichheit am Schluss
der Vorstufe aus Wil und von JGB 224: Beide Male wird der „Reiter auf vor-
wärts schnaubendem Rosse“ evoziert, aber in der Aufzeichnung steht er für
den Vornehmen, der maß- und im richtigen Augenblick innezuhalten weiß, in
der Druckfassung hingegen für das „Wir“, dem das Maß fremdgeworden sei:
 
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