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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0645
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Stellenkommentar JGB 224, KSA 5, S. 157-158 625

mengung der Stände und Rassen gestürzt worden ist] Halbbarbaren, Halbbarba-
rei und halbbarbarisch waren bei N. spätestens seit MA I 234, KSA 2, 196, 17 f.
Vokabeln, um historisch oder geographisch entrückte Zustände zu beschreiben
(vgl. z. B. NL 1880, KSA 9, 4[60], 114, 3; 4[105], 126, 24 f.; im Blick auf Beethoven
verglichen mit Goethe auch FW 103, KSA 3, 460, 1). In diesem Wortgebrauch,
der von der Unklarheit der Grenze zur ebenso unklar bestimmten Barbarei
zehrt, geht N. konform mit der von ihm gelesenen anthropologischen (Ratzel
1882, 219), kulturhistorischen (Hellwald 1883,1, 55) und kriminalistischen Lite-
ratur (Krauss 1884, 303). Dort wurde die Halbbarbarei als ein Zustand begrif-
fen, der dem von uns repräsentierten Kulturzustand vorgelagert ist, aber doch
sichtlich das Potential zum Zivilisiert-Werden in sich trägt (ein analoger Be-
fund lässt sich für die „semi-barbarie“ im zeitgenössischen französischen
Wortgebrauch erheben). Die Pointe von JGB 224 besteht in der Selbstapplikati-
on: Nicht die anderen sind die Halbbarbaren, sondern wir selbst, die wir erst
imstande sind, historisch zu urteilen. In der Sache, wenn auch nicht in der
Terminologie gehört dieses Argumentationsschema zu den frühesten von N.
publizistisch kundgetanen Gedanken: Kultur wollte er bereits in UB I DS 1 als
„Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäusserungen eines Volkes“
(KSA 1, 163, 3 f.) verstanden wissen. Das Gegenstück dazu ist nicht Halbbarba-
rei, sondern schlicht „Barbarei, das heisst: [...] Stillosigkeit oder [...] chaoti-
sche[s] Durcheinander aller Stile“ (KSA 1, 163, 7f.). Und N. lieferte dann noch
das passende Klassiker-Zitat dazu: ,„Wir Deutsche sind von gestern, sagte Goe-
the einmal zu Eckermann, wir haben zwar seit einem Jahrhundert ganz tüchtig
kultivirt, allein es können noch ein paar Jahrhunderte hingehen, ehe bei unse-
ren Landsleuten so viel Geist und höhere Kultur eindringe und allgemein wer-
de, dass man von ihnen wird sagen können, es sei lange her, dass sie Bar-
baren gewesen.*“ (KSA 1,164, 9-14) Während allerdings in N.s wagneriani-
sierendem Frühwerk der (Bier-)Ernst vorherrschte, und es keinen Augenblick
lang Zweifel darüber aufkommen ließ, dass kulturelle Einheit das allein Wün-
schenswerte sei, stellt die Abmilderung der Barbarei zur Halbbarbarei in JGB
224 schon ein Indiz dafür dar, wie gründlich sich bei der Ähnlichkeit des Argu-
mentationsschemas - Kultur ist Einheit, Barbarei/Halbbarbarei ist Vielheit -
die Bewertung verändert hat: „bezaubernd“ und „toll“ heißen die Epitheta der
Halbbarbarei, mit der JGB 224 zu sympathisieren scheint. Diese Halbbarbarei
wird fruchtbar - der „historische Sinn“ ist selbst das beste Beispiel. Auch die
behaupteten Ursachen der Semibarbarisierung, nämlich Demokratisierung und
Rassenmischung, werden so bewertungsambivalent. Vgl. NK 138, 25-28 u. 159,
4-11 (Homer und das Barbarische bei Hugo 1864).
158, 21-27 Wir geniessen zum Beispiel Homer wieder: vielleicht ist es unser
glücklichster Vorsprung, dass wir Homer zu schmecken verstehen, welchen die
 
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