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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0653
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Stellenkommentar JGB 226, KSA 5, S. 161-162 633

162, 7-10 Wir sind in ein strenges Garn und Hemd von Pflichten eingesponnen
und können da nicht heraus —, darin eben sind wir „Menschen der Pflicht“,
auch wir!] Die Selbstbeschreibung der „Immoralisten“, die in der Über-
schrift des Abschnitts ausdrücklich „Wir“ sagen (162, 2), konterkariert die
mögliche Lesererwartung, Immoralisten seien entfesselte, pflichtvergessene Li-
bertins. Nach JGB 226 sind sie - ohne inhaltliche Spezifikation - vielmehr in
ein Pflichtkorsett gespannt, das ihnen noch viel weniger als den traditionell
Moralischen erlaubt, über die Stränge zu schlagen. Die Immoralität über-
trumpft augenscheinlich die Moralität an moralischer Strenge und bezieht da-
raus ihre Rechtfertigung. Zugleich bleiben die Immoralisten im überlieferten
Selbstgestaltungsschema befangen, auch wenn die Pflichten selbstgewählte
sein mögen. Dass der Pflichtglaube das letzte Relikt herkömmlicher Religion
sei, ist ein Gedanke, den N. in Guyaus Esquisse mit Randstrich und „NB“ mar-
kiert hat: „Maintenant, les esprits les plus eleves parmi nous adorent le devoir;
ce dernier culte, cette derniere Superstition ne s’en ira-t-elle pas comme les
autres?“ (Guyau 1885,125. „In unseren Tagen verehren die besten Geister unter
uns die Pflicht als oberste Gottheit. Wird dieser letzte Kult, dieser letzte Aber-
glauben verschwinden, wie alle übrigen verschwunden sind?“ Guyau 1909,
284.) Und Guyau 1885, 126 weiter: „Peut-etre, par une evolution contraire, le
devoir doit-il se transformer et se confondre de plus en plus avec le developpe-
ment normal et regulier du moi. Ne faisons- nous pas encore le devoir ä l’image
de notre societe imparfaite? Nous nous le figurons souille de sang et de larmes.
Cette notion encore barbare, necessaire de nos jours, est peut-etre destinee ä
disparaitre. Le devoir repondrait alors ä une epoque de transition.“ („Vielleicht
muß der Pflichtbegriff durch eine Art entgegengesetzter Entwicklung sich wan-
deln, derartig, daß die oberste Pflicht in der normalen und steten Ausbildung
der Einzelpersönlichkeit bestände. Formen wir nicht den Pflichtbegriff nach
dem Bilde unserer unvollkommenen Gesellschaft? Kleben nicht an ihm Blut
und Tränen? Vielleicht wird diese barbarische in unseren Tagen noch notwen-
dige Auffassung verschwinden. Und der Pflichtbegriff entspräche dann einer
Epoche des Überganges.“ Guyau 1909, 285. N.s Unterstreichungen, zwei „NB“
und Randstriche von seiner Hand).
162,10-12 Bisweilen, es ist wahr, tanzen wir wohl in unsern „Ketten“ und zwi-
schen unsern „Schwertern“; öfter, es ist nicht minder wahr, knirschen wir darun-
ter] Die „Immoralisten“ scheinen zwei Tanzformen gleichzeitig aufzuführen,
nämlich den Kettentanz und den Schwerttanz, was mit beträchtlichen choreo-
graphischen Hürden verbunden sein dürfte, ist derjenige, dem beim Tanz Ket-
ten angelegt sind, doch in höchstem Maße gehindert und gebunden, während
der Schwerttänzer möglichst großen Spielraum braucht, um sich und seine Zu-
schauer nicht zu verletzen. MA II WS 140, KSA 2, 612, 15-22 fragte unter der
Überschrift „In Ketten tanzen“: „welches ist der neue Zwang, den er [sc.
 
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