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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0652
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632 Jenseits von Gut und Böse

werden kann, und es dieser Einwand ermöglicht, die Frage von „Lust und
Leid“ (160,16 f.) als eine unter vielen möglichen philosophischen Fragesphä-
ren zu entmachten, nimmt gegen Ende von JGB 225 wieder die Umkehrlogik
überhand, die bei N. in Auseinandersetzung mit der Tradition so häufig An-
wendung findet: Galt das Leiden bisherigem Philosophieren als schlecht und
abschaffungswürdig, soll es jetzt dem neuen Philosophieren als gut und
wünschbar erscheinen. Damit wird freilich die herkömmliche „Präokkupation
durch das Leiden“ (vgl. NK 161, 2-6) einfach nur unter umgekehrten Vorzei-
chen reproduziert. Das zeigt sich schon an der wiederholten Formulierung in
161, 9f. und 161, 17, denn „Zucht des Leidens“ ist eine eingeschliffene christ-
lich-protestantische Sprechweise, vgl. z. B. den konservativen preußischen Ge-
neralsuperintendenten Ernst Sartorius (1797-1859), dem zufolge die „Ueberres-
ten“ der „Erbsünde“ „durch die Gnade Christi vergeben und durch die göttliche
Zucht des Leidens und Sterbens von der erlösten Seele gründlich abgestreift
werden“ (Sartorius 1859, 25). Zur Rezeption von JGB 225 in Thomas Manns Zau-
berberg siehe Joseph 1996, 114 f.
161, 18f. Im Menschen ist Geschöpf und Schöpfer vereint] Auch diese
Selbstermächtigung des Menschen, der zugleich Bedingter und Bedingender
ist, nimmt religiöses Vokabular auf (vgl. NK 161,17), ist doch nach den Grund-
sätzen der christlichen Dogmatik Jesus Christus zugleich wahrhaftig Mensch
(vere homo) und wahrhaftig Gott (vere Deus), damit Schöpfer und Geschöpf in
einem.

226.
162, 2 Wir Immoralisten!] Diese Überschrift notierte N. in NL 1885/86,
KSA 12, 1[168], 48, 7 (KGW IX 2, N VII 2, 92, 10, vgl. NL 1885/86, KSA 12, 2[185],
158, 29 = KGW IX 5, W I 8, 50, 8). Erstmals in einem Werk war bei N. in MA II
WS 19, KSA 2, 553,19-21 von „Immoralisten“ die Rede: „Die Moralisten müssen
es sich jetzt gefallen lassen, Immoralisten gescholten zu werden, weil sie die
Moral seciren.“ Von 1885 an wurde im Nachlass das Etikett „Immoralist“ zur
Selbstcharakterisierung gebräuchlich, vielleicht unter dem Eindruck dessen,
was Guyau in seiner Esquisse über „immoralite“ schrieb. Beispielsweise mar-
kierte N. die folgende Bemerkung mit zwei Randstrichen und schrieb an den
Rand: „moi“, „ich“: „On a assez longtemps accuse le doute d’immoralite, /127/
mais on pourrait soutenir aussi Fimmoralite de la foi dogmatique.“ (Guyau
1885,126 f., N.s Unterstreichungen. „Lange genug hat man den Zweifel der Un-
sittlichkeit angeklagt. Aber ebensogut könnte man die Unsittlichkeit dogmati-
schen Glaubens behaupten.“ Guyau 1909, 285). Vgl. NK 162, 7-10.
 
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