Stellenkommentar JGB 225, KSA 5, S. 160-161 631
(vgl. NK 160, 15-21) ist fundamental und berührt das abendländische, beileibe
nicht nur das moderne Selbstverständnis im Kern: Leidensminimierung scheint
nach diesem abendländischen (aber beispielsweise auch buddhistischen)
Selbstverständnis eine Grundintuition menschlicher Kulturleistung zu sein,
auch wenn das Bemühen sich oft nicht auf alle Menschen erstreckt (beispiels-
weise nur auf Christen oder nur auf Angehörige eines bestimmten Volkes oder
Standes). Bereits in FW 325, KSA 3, 553 wurde behauptet, dass zur Größe nicht
so sehr das „Leidenkönnen“ gehöre, sondern vor allem die Fähigkeit, Leiden
zuzufügen. Im Bestreben, das Leiden abzuschaffen, sah der späte N. nun ein
gemeinsames Projekt sowohl der traditionellen Metaphysik, die auf diese Ab-
schaffung mittels Moral ziele (NL 1887, KSA 12, 8[2], 328, 27-29), als auch der
zeitgenössischen politischen Strömungen Sozialismus und Anarchismus (vgl.
z. B. Stöpel 1881). Das heißt dann „Präokkupation durch das Leiden“ (KSA
12, 328, 20), welche die zu Beginn von JGB 225 genannten, dem jeweils eigenen
Selbstverständnis nach so unterschiedlichen Philosophien charakterisiert. Und
selbst wenn man den gespreizten Leidensverachtungsheroismus von FW 325
nicht teilt (vgl. Jacob Burckhardts ironische Replik im Brief an N. vom
13. 09.1882, KGB III/2, 289, 36-38), bleibt der Einwand doch philosophisch aus-
gesprochen gewichtig: Weshalb sollte das Leiden das Kernthema der Philoso-
phie, seine Minderung oder gar Abschaffung ihr praktischer Auftrag sein? Viel-
leicht geht Leiden die Philosophie nur sekundär, tertiär etwas an - insofern sie
das Produkt von Menschen ist, die, wie andere Lebewesen, gelegentlich auch
leiden.
Eine Inspirationsquelle ist (neben Schopenhauers Leidensfixierung) ein-
mal mehr Guyaus Esquisse: „Nous sommes bien loin de Bentham et des utilitai-
res, qui cherchent ä eviter partout la peine, qui voient en eile l’irreconciliable
ennemie: c’est comme si on ne voulait pas respirer trop fort, de peur de se
depenser. Dans Spencer meme, il y a encore trop d’utilitarisme.“ (Guyau 1885,
25. N.s Unterstreichungen. „Wir stimmen gar nicht mit Bentham und den Utili-
tariern überein, die überall das Leiden zu umgehen suchen, die im Schmerze
einen unversöhnlichen Feind sehen. Das wäre gerade so, als wenn wir es nicht
wagen wollten, zu tief auszuatmen, aus Furcht uns auszugeben. Sogar in Spen-
cer steckt noch zuviel Utilitarismus.“ Guyau 1909, 291) N. notierte dazu am
Rand: „Bentham und die Utilitarier suchen vor Allem dem Schmerz auszuwei-
chen: ihr Todfeind Spencer sieht in den desinteressierten Instinkten Produkte
der Gesellschaft: Guyau findet sie schon (im Individuum) im Grund des Le-
bens“ (Guyau 1909, 291).
161, 9f. Die Zucht des Leidens, des grossen Leidens] Während der Einwand
gegen eine Denkweise, die sich der Abschaffung des Leidens verschreibt, in
161, 2-6 gegen die Dominanz des Leidensthemas in philosophicis zugespitzt
(vgl. NK 160, 15-21) ist fundamental und berührt das abendländische, beileibe
nicht nur das moderne Selbstverständnis im Kern: Leidensminimierung scheint
nach diesem abendländischen (aber beispielsweise auch buddhistischen)
Selbstverständnis eine Grundintuition menschlicher Kulturleistung zu sein,
auch wenn das Bemühen sich oft nicht auf alle Menschen erstreckt (beispiels-
weise nur auf Christen oder nur auf Angehörige eines bestimmten Volkes oder
Standes). Bereits in FW 325, KSA 3, 553 wurde behauptet, dass zur Größe nicht
so sehr das „Leidenkönnen“ gehöre, sondern vor allem die Fähigkeit, Leiden
zuzufügen. Im Bestreben, das Leiden abzuschaffen, sah der späte N. nun ein
gemeinsames Projekt sowohl der traditionellen Metaphysik, die auf diese Ab-
schaffung mittels Moral ziele (NL 1887, KSA 12, 8[2], 328, 27-29), als auch der
zeitgenössischen politischen Strömungen Sozialismus und Anarchismus (vgl.
z. B. Stöpel 1881). Das heißt dann „Präokkupation durch das Leiden“ (KSA
12, 328, 20), welche die zu Beginn von JGB 225 genannten, dem jeweils eigenen
Selbstverständnis nach so unterschiedlichen Philosophien charakterisiert. Und
selbst wenn man den gespreizten Leidensverachtungsheroismus von FW 325
nicht teilt (vgl. Jacob Burckhardts ironische Replik im Brief an N. vom
13. 09.1882, KGB III/2, 289, 36-38), bleibt der Einwand doch philosophisch aus-
gesprochen gewichtig: Weshalb sollte das Leiden das Kernthema der Philoso-
phie, seine Minderung oder gar Abschaffung ihr praktischer Auftrag sein? Viel-
leicht geht Leiden die Philosophie nur sekundär, tertiär etwas an - insofern sie
das Produkt von Menschen ist, die, wie andere Lebewesen, gelegentlich auch
leiden.
Eine Inspirationsquelle ist (neben Schopenhauers Leidensfixierung) ein-
mal mehr Guyaus Esquisse: „Nous sommes bien loin de Bentham et des utilitai-
res, qui cherchent ä eviter partout la peine, qui voient en eile l’irreconciliable
ennemie: c’est comme si on ne voulait pas respirer trop fort, de peur de se
depenser. Dans Spencer meme, il y a encore trop d’utilitarisme.“ (Guyau 1885,
25. N.s Unterstreichungen. „Wir stimmen gar nicht mit Bentham und den Utili-
tariern überein, die überall das Leiden zu umgehen suchen, die im Schmerze
einen unversöhnlichen Feind sehen. Das wäre gerade so, als wenn wir es nicht
wagen wollten, zu tief auszuatmen, aus Furcht uns auszugeben. Sogar in Spen-
cer steckt noch zuviel Utilitarismus.“ Guyau 1909, 291) N. notierte dazu am
Rand: „Bentham und die Utilitarier suchen vor Allem dem Schmerz auszuwei-
chen: ihr Todfeind Spencer sieht in den desinteressierten Instinkten Produkte
der Gesellschaft: Guyau findet sie schon (im Individuum) im Grund des Le-
bens“ (Guyau 1909, 291).
161, 9f. Die Zucht des Leidens, des grossen Leidens] Während der Einwand
gegen eine Denkweise, die sich der Abschaffung des Leidens verschreibt, in
161, 2-6 gegen die Dominanz des Leidensthemas in philosophicis zugespitzt