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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0650
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630 Jenseits von Gut und Böse

vgl. NK KSA 6,177, 24-28). JGB 225 gründet die Zurückweisung hedonistisch-eu-
dämonistischer Argumentationsweisen auf das „Künstler-Gewissen“ und verla-
gert damit das Kriterium gelingenden Lebens weg von Lust oder Unlust hin zum
Schaffen: Gestalten-Können, Wirkmächtigkeit soll nun die zentrale Stelle in der
Wertehierarchie bekommen; Lust und Leiden sind im Verhältnis dazu nur Epi-
phänomene. Dazu passt, was N. bei Guyau 1885,13 gelesen hat: „Le plaisir est un
etat de la conscience qui, selon les psychologues et les physiologistes, est lie ä un
accroissement de la vie (physique ou intellectuelle); il s’ensuit que ce precepte:
,accrois d’une maniere constante l’intensite de ta vie‘ se confondra finalement
avec celui-ci: ,accrois d’une maniere constante l’intensite de ton plaisir/ L’hedo-
nisme peut donc subsister, mais au second rang et plutöt comme consequence
que comme principe. Tous les moralistes anglais disent: ,le plaisir est le seul le-
vier avec lequel on puisse mouvoir l’etre?“ („Die Lust ist ein Zustand des Bewußt-
seins, der, wie Psychologen und Physiologen aussagen, an eine Zunahme des
körperlichen und geistigen Lebensgefühls geknüpft ist. Dar-/106/aus folgt, dass
die Maxime: Vermehre beständig die Intensität deines Lebens4 schließlich mit
der Maxime zusammenfällt: ,Mehre beständig die Intensität deines Lebensge-
nusses? Der Hedonismus kann also wohl aufrecht erhalten werden, aber erst in
zweiter Linie und mehr als Ergebnis denn als Grundlage. Alle englischen Mora-
listen sagen: ,Die Lust ist der einzige Hebel, mit dem man ein Wesen in Bewe-
gung setzen kann?“ Guyau 1909,105 f.) Selbstredend teilten weder Guyau noch
N. die Ansicht der „englischen Moralisten“.
160, 27 f. Sklaven-Schichten, welche nach Herrschaft — sie nennen’s „Frei-
heit“ — trachten] In JGB 260, KSA 5, 212, 12-17 wird das Trachten nach Freiheit
zu einem Grundzug der „Sklaven-Moral“ erklärt (vgl. auch NK 47, 29-48, 1).
Zwangsläufig provoziert das die Frage, inwiefern das eigene Trachten des spre-
chenden „Wir“, sich von den Fesseln der mentalen, moralischen, emotionalen
und sozialen Tradition zu befreien, Ausdruck einer sklavenmoralischen Hal-
tung sei. Stöpel 1881, 167 notierte: „Der Sklave, dem man das Freiheitsrecht
zurückgiebt, ohne ihn thatsächlich von seinem Herrn unabhängig zu machen,
ist nicht frei; nur die Form der Abhängigkeit wechselt; damit er frei sei, muss
man ihn mit den Attributen der Freiheit ausstatten.“ JGB 225 wiederum insinu-
iert, dass auch solche „Attribute der Freiheit“ nichts nützen, weil der Sklave
in seiner Mentalität sklavisch, eben im Modus eines Bedürfnisses nach Abhän-
gigkeit bleibe.
161, 2-6 Ihr wollt womöglich — und es giebt kein tolleres „womöglich“ — das
Leiden abschaffen; und wir? — es scheint gerade, wir wollen es lieber
noch höher und schlimmer haben, als je es war!] Vgl. NK 60, 25-61, 22. Dieser
Einwand an die Adresse der eingangs genannten, zeittypischen Philosophien
 
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