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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0668
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648 Jenseits von Gut und Böse

richteten Vermögen, behält aber den zentralen Aspekt des Herrschafts- und
Gestaltungsstrebens bei, der dem Geist seit Platons pyepovouv (Timaios 41c),
Aristoteles’ pyoupevov (Nikomachische Ethik 1113a) und dem pycpoviKÖv der
Stoiker innewohnt. Liebmanns Vorlage passte nun ausgezeichnet zur erneuer-
ten Assoziation von Geist mit Macht, mit Herr-sein-Wollen bei N. - so gut,
dass er sie, als performativen Beleg für die Wirkungsweise des Geistes, gerne
assimilierte. GM Vorrede 2 bemüht zur Charakterisierung des sich dort in seiner
Geschichte selbst analysierenden Ich die Wendung „Grundwillen der Er-
kenntnis“ (KSA 5, 248, 26). Die Überlegung von JGB 230 wird dort weiterentwi-
ckelt auf Grundlage von Höffding 1887, 106, Fn., vgl. NK KSA 5, 248, 19-26.
167, 30-168, 8 Diesem selben Willen dient ein scheinbar entgegengesetzter
Trieb des Geistes, ein plötzlich herausbrechender Entschluss zur Unwissenheit,
zur willkürlichen Abschliessung, ein Zumachen seiner Fenster, ein inneres Neinsa-
gen zu diesem oder jenem Dinge, ein Nicht-heran-kommen-lassen, eine Art Ver-
theidigungs-Zustand gegen vieles Wissbare, eine Zufriedenheit mit dem Dunkel,
mit dem abschliessenden Horizonte, ein Ja-sagen und Gutheissen der Unwissen-
heit: wie dies Alles nöthig ist je nach dem Grade seiner aneignenden Kraft, seiner
„Verdauungskraft“, im Bilde geredet — und wirklich gleicht „der Geist“ am meis-
ten noch einem Magen.] Abschließung oder Aneignung sind demnach nicht ge-
gensätzliche Triebe des herrischen Vermögens namens Geist, sondern nur Er-
scheinungsformen desselben Bestrebens, Herr sein zu wollen, das sich je nach
Umständen und Sättigungsgrad entweder als Welteinverleibung oder als Welt-
verzicht manifestiert. Die funktionale Analogie von Geist und Magen wurde als
launiges Apercu schon vor N. gelegentlich vorgetragen, so etwa in den ihm
wohlbekannten Beiträgen zur Charakterologie von Julius Bahnsen: „Gar nicht
selten sind in unsern Tagen mechanisirter Schuldressur jene Leute, die inner-
halb einer gesteckten Frist den Magen ihres Geistes ,sich vollschlagen4 (wie
das Volk vom gedankenlosen Fresser sich ausdrückt) mit dem Stoff, welchen
sie für irgendeinen Zweck — meistens für ein chinesisches Mandarinenex-
amen — gerade »brauchen4, und die dann — sei es infolge äußerer Umstände,
sei es vermöge der Schwäche ihrer intellectuellen Verdauungskraft — ins Sto-
cken gerathen an dem Punkte ihrer Bildung, wo die Reife eintreten, d. h. das
abstract Erlernte in ein anschaulich, nicht blos begrifflich, Verstandenes sich
umsetzen“ (Bahnsen 1867, 1, 348) sollte. N.s Text destilliert aus der funktiona-
len Analogie dann den eigentlichen Begriff des „Geistes“.
168, 21-27 er geniesst auch das Gefühl seiner Sicherheit darin, — gerade durch
seine Proteuskünste ist er ja am besten vertheidigt und versteckt! — Diesem
Willen zum Schein, zur Vereinfachung, zur Maske, zum Mantel, kurz zur Oberflä-
che — denn jede Oberfläche ist ein Mantel — wirkt jener sublime Hang des Erken-
 
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