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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0678
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658 Jenseits von Gut und Böse

„mulier taceat in politicis“, „die Frau soll in politischen Belangen schweigen“,
dann ist das kein anderswo belegbares Originalzitat, sondern die Quintessenz
der eskalierenden Rivalität zwischen dem Kaiser und der Schriftstellerin, die
sich ursprünglich für den jungen Korsen begeistert hatte (vgl. z. B. Albert 1884,
1, 195 u. Las Cases 1824, 2, 195-198).
Auch Schopenhauer ließ im fraglichen Kapitel seine Polemik gegen die ver-
meintliche künstlerische und intellektuelle Unfruchtbarkeit der Frauen in ei-
nem Napoleon-Zitat gipfeln: „Einzelne und teilweise Ausnahmen ändern die
Sache nicht; sondern die Weiber sind und bleiben, im ganzen genommen, die
gründlichsten und unheilbarsten Philister: deshalb sind sie, bei der höchst ab-
surden Einrichtung, daß sie Stand und Titel des Mannes teilen, die beständi-
gen Ansporner seines unedlen Ehrgeizes; und ferner ist, wegen derselben
Eigenschaft, ihr Vorherrschen und Tonangeben der Verderb der modernen Ge-
sellschaft. In Rücksicht auf Ersteres sollte man den Ausspruch Napoleons I.
zur Richtschnur nehmen: les femmes n’ont pas de rang“ (Schopenhauer 1873-
1874, 6, 656 - „die Frauen haben keinen Rang“).
Unter den wenig schmeichelhaften Äußerungen, die von Napoleon zum
weiblichen Geschlecht überliefert sind, gibt es auch seine Antwort auf die Fra-
ge von Madame de Stael in großer Gesellschaft, welche seiner Ansicht nach „la
premiere femme du monde, morte ou vivante“ („die erste Frau der Welt, tot
oder lebend“) sei. Diese Antwort lautete: „Celle qui afait le plus d’enfans“ (Da-
mas-Hinard 1838, 1, 476. „Diejenige, die am meisten Kinder geboren hat“). Im
Unterschied zu Paulus, zu Schopenhauer und zu Napoleon in N.s Zuspitzung
hatte Madame de Stael es in ihren 1818 erstmals erschienenen Considerations
sur les principaux evenements de la Revolution frangaise gerade für fatal gehal-
ten, wenn man die Frauen zum Schweigen zwinge: „Les femmes en Angleterre
sont accoutumees ä se taire devant les hommes, quand il est question de politi-
que; les femmes en France dirigeaient chez elles presque toutes les conversati-
ons, et leur esprit s’etait forme de bonne heure ä la facilite que ce talent exige.
Les discussions sur les affaires publiques etaient donc adoucies par elles, et
souvent entremelees de plaisanteries aimables et piquantes“ (Stael 1838, 140.
„Die Frauen in England werden daran gewöhnt, vor den Männern zu schwei-
gen, wenn es sich um Politik handelt; die Frauen in Frankreich leiteten bei
sich fast alle Gespräche, und ihr Geist hatte sich früh in der Leichtigkeit gebil-
det, die dieses Talent fordert. Die Diskussionen über die Staatsgeschäfte wur-
den also von ihnen gemildert und oft mit liebenswürdigen und pikanten Scher-
zen vermischt“).
Die letzte Stufe der Paulus-Parodie „mulier taceat de muliere“, „die Frau
soll über die Frau schweigen“, knüpft an den Brief Galianis an Madame d’Epi-
nay vom 02. 02.1771 an, in dem er auf die Frage antwortete, was eine Frau
 
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