Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0706
License: Free access  - all rights reserved
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
686 Jenseits von Gut und Böse

sind wir4“. In NL 1885, KSA 11, 36[38], 567, 15-19 (KGW IX 4, W I 4, 18, 4-8)
wird dieser Faden aufgenommen: „Es thut den Deutschen wehe, sich einzuge-
stehen, wie sehr sie die Deutschen Kotzebues gewesen sind (oder rund zu ei-
nem guten Theile-1 noch nicht —); und jener lebensgefährliche Schwärmer Sand
nahm vielleicht seine Rache rnur'' an der falschen Stelle, wie es so oft ge-
schieht.“ Am selben Ort (KSA 11, 567, 20 bzw. KGW IX 4, W I 4, 19, 6) notierte
N. den Namen des katholischen Historikers Johannes Janssen (allerdings nur
mit einem s), was ein Hinweis auf dessen unter N.s Büchern erhaltenes Werk
Joh. Friedrich Böhmer’s Leben und Anschauungen sein mag, in dem ausführlich
die große Resonanz des Kotzebue-Attentats im römischen Freundeskreis von
Johann Friedrich Böhmer besprochen wird (Janssen 1869, 54-56). Zumal den
in einer Zeitung veröffentlichten Brief, „welchen der Schwärmer kurz vor der
Verübung seiner blutigen That an die Seinigen erlassen hatte“, bewundert Böh-
mer ob der „Grandiosität dieser Gesinnung“: „Die Freunde stimmten darin
überein, daß man das Ereigniß allerdings als ein schlimmes Zeichen der Krank-
heit dieser Zeit betrachten müsse, ,diese sei aber aus den thörichten und des-
potischen Handlungen der Fürsten entstanden/ Kotzebue habe im Verein mit
andern Romanschreibern vorzüglich unter der weiblichen Jugend in Deutsch-
land viel Böses angerichtet, er habe Deutschland und seine Schriftsteller ver-
leumdet, der Tyrannei geschmeichelt und sich als das niedrigste Werkzeug von
Tyrannen gebrauchen lassen“ (ebd., 55).
Für N.s Kotzebue-Bild früh prägend dürften die Bemerkungen in Richard
Wagners Deutsche Kunst und deutsche Politik gewesen sein, wo Kotzebue für
den Import des Melodrams nach Deutschland zur Verantwortung gezogen wird
(Wagner 1873, 8,105): „Die unterdrückte Natur rächte sich: was als Obscönität
nicht gelitten war, kam als Frivolität zum Vorschein. Kotzebue arrangirte das
»Schlüpfrige4, d.h. das gänzlich Nichtige, welches sich so nichtig zeigt, daß
man überall unter allen Falten etwas sucht, bis der erregten Neugierde endlich
wohlverwahrt das Obscöne gezeigt wird, - aber so, daß die Polizei Nichts dage-
gen sagen kann.“ (Ebd., 106) „Da trat am 23. März 1819 ein Jüngling im altdeut-
schen Rocke zu ihm in das Zimmer, und erstach den Staatsrath vollständig zu
Tode. - Eine unerhörte, ahnungsvoll merkwürdige That. In ihr war Alles Ins-
tinkt: der russische Czar handelte aus seinem Instinkt, als er die eigentlich nur
leichtsinnigen Berichte seines Staatsrathes sich schreiben ließ; nicht minder
aber Sand, welcher den deutlichen Belegen für Kotzebue’s politische Un-
schädlichkeit nichts Anderes entgegnen konnte, als - dieser sei der Verführer
der deutschen Jugend, der Verräther des deutschen Volkes.“ (Ebd.) Wenn Wag-
ner den Abschnitt mit der Bemerkung schließt: „Was die Nation darüber emp-
fand, ist nicht klar; gewiß ist nur, daß Kotzebue’s Geisteserben das deutsche
Theater gehörte“ (ebd., 107), dann folgt daraus nicht, dass er wie JGB 244 die
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften