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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0709
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Stellenkommentar JGB 244, KSA 5, S. 185 6 89

185,17-21 Und wie jeglich Ding sein Gleichniss liebt, so liebt der Deutsche die
Wolken und Alles, was unklar, werdend, dämmernd, feucht und verhängt ist: das
Ungewisse, Unausgestaltete, Sich-Verschiebende, Wachsende jeder Art fühlt er
als „tief“.] Die Deutschen kranken nach der hier gegebenen Diagnose daran,
dass sie nicht verdauen können (vgl. 186, 9-11), dass sie im Modus der Unklar-
heit bleiben und das Fremde gerade nicht zu assimilieren verstehen. Das ist die
genaue Kontrafaktur zu Wagners Behauptung, „daß es dem deutschen Geiste
bestimmt war, das Fremde, ursprünglich ihm Fernliegende, in höchster objek-
tiver Reinheit der Anschauung zu erfassen und sich anzueignen“ (Wagner 1907,
10, 40).
185, 21 f. Der Deutsche selbst ist nicht, er wird, er „entwickelt sich“.] Das ist
das Echo einer Aufzeichnung, die dann (in malträtierter Form) als WzM2 108
rezeptionsgeschichtlich Karriere machen wird (dazu Niemeyer 2014, 157) und
die im Manuskript mit den Worten beginnt: „Die Deutschen sind noch nichts,
aber sie werden etwas; also haben sie noch keine Kultur, — also sie können
rsie noch'' keine Cultur haben! Dies ist mein Satz: mag sich daran stoßen, wer
rwer es muß:'' [nämlich] Jeder also ''nämlich'1, der"1 gespreizte Gliedmaaßen
rhaf u 'wer'' rim Kopfe-1 Deutschthümelei im Schädel hat! ru '"wer"' im Schilde-1
rim Schilde u im Schädel-1 [im Schädel (oder im Schilde)] ‘‘führt!’' — Sie sind
noch nichts: das heißt: sie sind allerlei. Sie werden etwas: das heißt, sie hören
reinmar auf, allerlei zu sein.“ (KGW IX 4, W I 4, 12, 24-30) Die Überlegungen
im Nachlass variieren wiederum den berühmten Anfang von Emmanuel-Joseph
Sieyes’ Revolutionspamphlet Qu’est-ce que le Tiers-Etat? (1789): „1° Qu’est-ce
que le Tiers-Etat? Tout. 2° Qu’a-t-il ete jusqu’ä present dans l’ordre politique?
Rien. 3° Que demande-t-il? A y devenir quelque chose.“ („1. Was ist der Dritte
Stand? Alles. 2. Was ist er bis jetzt in der politischen Ordnung gewesen? Nichts.
3. Was verlangt er? Etwas zu werden.“) N. hatte sich Sieyes’ Fragen in der von
ihm mit zahlreichen Lesespuren versehenen „Introduction“ zum zweiten Band
von Paul Alberts La litterature frangaise au dix-neuvieme siede ins Gedächtnis
gerufen: „Le mot de Sieyes sur le tiers etat: Qua-t-il ete? — Rien. — Que doit-il
etre? Tout, sera vrai, meme en histoire ...“ (Albert 1885, 2, 8. „Das Wort von
Sieyes über den Dritten Stand: Was ist er gewesen? - Nichts - Was muss er
sein? Alles, wird wahr sein, sogar in der Geschichte ...“).
185, 29-32 „Gutmüthig und tückisch“ — ein solches Nebeneinander, widersinnig
in Bezug auf jedes andre Volk, rechtfertigt sich leider zu oft in Deutschland: man
lebe nur eine Zeit lang unter Schwaben!] N. hat selbst nie in Schwaben, also in
Württemberg, gelebt, aber spätestens seit seiner Auseinandersetzung mit dem
Schwaben David Friedrich Strauß in UB I DS eine Abneigung gegen jene
schwäbische Geistesart kundgetan (vgl. auch MA II VM 324), die er in den Ab-
 
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