Stellenkommentar JGB 245, KSA 5, S. 187-188 695
rem überraschend großen Sprach- und Musiktalent, der Literatur kein Interesse
zu schenken scheint, vielleicht den E. T. A. Hoffmann gar nicht gelesen hat,
somit nicht wissen kann, um was es sich eigentlich bei dieser verunglückten
titellosen Programm-Musik handelt/ Ich antwortete: ,Das Musikempfinden die-
ser Russin ist durch und durch deutsch ...‘ ,Deutsch4, unterbrach mich Nietz-
sche, »Deutsch, das ist es eben im Sinn einer nach innen gekehrten Gefühlsdu-
selei und des Versenkens in eine persönliche, kleinbürgerliche, klebrige Ge-
fühlsschwelgerei, welche die Menschheit recht gleichgültig läßt. Schumann
war gewiß eine ehrliche Natur und ein großes Talent, jedoch kein Segen für
die Tonkunst im allgemeinen, geschweige für die deutsche Musik im besonde-
ren. Das versteckende Insichhinein ist sogar gefährlich, nicht minder gefähr-
lich /550/ als das schauspielerische Aussichheraus Richard Wagners.' Daraufhin
erwiderte ich mit Lebhaftigkeit und nicht ohne Schärfe: »Schumann hat dank
seiner auf dem blühenden dichterischen Untergründe ruhenden, durchaus ei-
genartigen Wesenheit, doch außerordentlich fördernd und heilsam gewirkt, in-
dem er, der sonst so Friedfertige und wahren jungen Talenten so Wohlwollen-
de, dem verknöcherten Philistertum, der Schablone, dem flachen gleißenden
Virtuosentum einen erbarmungslosen Krieg erklärte und siegreich durchführte.
Als produktiver Kritiker steht er unerreicht da. Freilich, wer sich in ihn den
Tondichter dermaßen einfühlt, sich ihm gewissermaßen mit Haut und Haaren
verschreibt, wie es Theodor Kirchner getan hat, der muß es in der Folge emp-
findlich büßen? - »Theodor Kirchner? Wurde nicht jüngst zu seinen Gunsten
eine Sammlung veranstaltet?4, fragte Nietzsche. Ja4, konnte ich ihm des nähe-
ren berichten. ,Es bildete sich ein Ausschuß von Kirchners Züricher- und Win-
terthurerfreunden [...] die Mittel aufzubringen, den alten Kirchner vor dem
Hunger zu schützen und ihm einen sorgenlosen Lebensabend zu bereiten.
[...]4 - »Nun sehen Sie4, meinte Nietzsche, »spricht diese Veranlassung nicht
für meine Behauptung?4 - »Gewiß4, versetzte ich; »jedoch, wie ich glaube, nur
insoweit als sie gegen ein Übermaß von Epigonentum spricht, wozu Schumann
sinnige Naturen gerne verleitet, keinen aber mehr als gerade seinen treuesten
und begabtesten Schildknappen, Theodor Kirchner, verführt hat. [...]4 Ohne in-
dessen eine Antwort abzuwarten, hub er aufs neue an, Schumann - diesmal
als dramatischen Tonsetzer - anzugreifen. Auch mit mehr Beredsamkeit als
mir zu Gebote stand, wäre mir eine überzeugende Verteidigung nach dieser
Seite hin kaum geglückt. Mußte ich doch gestehen, daß mir noch niemals eine
mattere Wirkung von der Szene herab vorgekommen sei, wie die an sich edle
und schöne Musik der »Genoveva4. Doch nahm ich mich der Musik zu »Manfred4
an, die Nietzsche ganz besonders zu widerstreben schien. Hierbei entwaffnete
er mich damit, daß er mir ein helles Lachen entlockte, indem er ganz ernsthaft
die Frage an mich richtete, ob ich mir den Gemsjäger, Astarte, die Alpenfee in
rem überraschend großen Sprach- und Musiktalent, der Literatur kein Interesse
zu schenken scheint, vielleicht den E. T. A. Hoffmann gar nicht gelesen hat,
somit nicht wissen kann, um was es sich eigentlich bei dieser verunglückten
titellosen Programm-Musik handelt/ Ich antwortete: ,Das Musikempfinden die-
ser Russin ist durch und durch deutsch ...‘ ,Deutsch4, unterbrach mich Nietz-
sche, »Deutsch, das ist es eben im Sinn einer nach innen gekehrten Gefühlsdu-
selei und des Versenkens in eine persönliche, kleinbürgerliche, klebrige Ge-
fühlsschwelgerei, welche die Menschheit recht gleichgültig läßt. Schumann
war gewiß eine ehrliche Natur und ein großes Talent, jedoch kein Segen für
die Tonkunst im allgemeinen, geschweige für die deutsche Musik im besonde-
ren. Das versteckende Insichhinein ist sogar gefährlich, nicht minder gefähr-
lich /550/ als das schauspielerische Aussichheraus Richard Wagners.' Daraufhin
erwiderte ich mit Lebhaftigkeit und nicht ohne Schärfe: »Schumann hat dank
seiner auf dem blühenden dichterischen Untergründe ruhenden, durchaus ei-
genartigen Wesenheit, doch außerordentlich fördernd und heilsam gewirkt, in-
dem er, der sonst so Friedfertige und wahren jungen Talenten so Wohlwollen-
de, dem verknöcherten Philistertum, der Schablone, dem flachen gleißenden
Virtuosentum einen erbarmungslosen Krieg erklärte und siegreich durchführte.
Als produktiver Kritiker steht er unerreicht da. Freilich, wer sich in ihn den
Tondichter dermaßen einfühlt, sich ihm gewissermaßen mit Haut und Haaren
verschreibt, wie es Theodor Kirchner getan hat, der muß es in der Folge emp-
findlich büßen? - »Theodor Kirchner? Wurde nicht jüngst zu seinen Gunsten
eine Sammlung veranstaltet?4, fragte Nietzsche. Ja4, konnte ich ihm des nähe-
ren berichten. ,Es bildete sich ein Ausschuß von Kirchners Züricher- und Win-
terthurerfreunden [...] die Mittel aufzubringen, den alten Kirchner vor dem
Hunger zu schützen und ihm einen sorgenlosen Lebensabend zu bereiten.
[...]4 - »Nun sehen Sie4, meinte Nietzsche, »spricht diese Veranlassung nicht
für meine Behauptung?4 - »Gewiß4, versetzte ich; »jedoch, wie ich glaube, nur
insoweit als sie gegen ein Übermaß von Epigonentum spricht, wozu Schumann
sinnige Naturen gerne verleitet, keinen aber mehr als gerade seinen treuesten
und begabtesten Schildknappen, Theodor Kirchner, verführt hat. [...]4 Ohne in-
dessen eine Antwort abzuwarten, hub er aufs neue an, Schumann - diesmal
als dramatischen Tonsetzer - anzugreifen. Auch mit mehr Beredsamkeit als
mir zu Gebote stand, wäre mir eine überzeugende Verteidigung nach dieser
Seite hin kaum geglückt. Mußte ich doch gestehen, daß mir noch niemals eine
mattere Wirkung von der Szene herab vorgekommen sei, wie die an sich edle
und schöne Musik der »Genoveva4. Doch nahm ich mich der Musik zu »Manfred4
an, die Nietzsche ganz besonders zu widerstreben schien. Hierbei entwaffnete
er mich damit, daß er mir ein helles Lachen entlockte, indem er ganz ernsthaft
die Frage an mich richtete, ob ich mir den Gemsjäger, Astarte, die Alpenfee in