Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0723
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar JGB 248, KSA 5, S. 190-191 703

nen, nicht zum besten Theile auf Pfarrerssöhne zurückgeht. — Nun liegt in
dieser Abkunft der deutschen Prosa von vornherein die Wahrscheinlichkeit,
daß die feierlichen, würdevollen, langsamen, gravitätischen Gattungen am
besten gepflegt sind: daß es am Allegro oder gar am Presto fehlen wird.“
191, 8-13 Das Meisterstück der deutschen Prosa ist deshalb billigerweise das
Meisterstück ihres grössten Predigers: die Bibel war bisher das beste deutsche
Buch. Gegen Luther’s Bibel gehalten ist fast alles Übrige nur „Litteratur“ — ein
Ding, das nicht in Deutschland gewachsen ist und darum auch nicht in deutsche
Herzen hinein wuchs und wächst: wie es die Bibel gethan hat.] Während N. sonst
Luther und seiner Reformation als Erneuerung des eigentlich dem Untergang
geweihten Christentums gegen die moralumwertende Renaissance ein schlech-
tes Zeugnis auszustellen pflegte (vgl. prominent AC 61, dazu NK KSA 6, 251,
12-26, ferner NK 66, 19-22), rückt das Ende von JGB 247 Luthers Bibelüberset-
zung - die erste Übersetzung des Neuen Testaments erschien 1522, die ganze
Bibel erstmals 1534 - an die Spitze des literarischen Schaffens in Deutschland.
Manche Stellen im Nachlass klingen sogar noch euphorischer: „Unser letztes
Ereigniß ist immer noch Luther, unser einziges Buch immer noch die B i -
bei. “ (NL 1884, KSA 11, 25[162], 56,14-16) Mit den protestantischen Gelehrten
des 19. Jahrhunderts scheint N. die Auffassung geteilt zu haben, dass diese
Übersetzung für die neuzeitliche deutsche Literatur von gewaltiger Prägekraft
gewesen sei: „Luthers Sprache, die Bibel als Grundlage einer neuen poetischen
Form.“ (NL 1885, KSA 11, 35[84], 548, 28 f., entspricht KGW IX 4, W I 3, 6,
22.) Indessen ist das Kompliment am Schluss von JGB 247 vergiftet, denn die
vorangehenden Seiten waren ja bemüht, die intellektuelle und literarische Im-
potenz der Deutschen, ihr Unvermögen zu einer höheren, feineren und lebens-
freudigeren Kultur in ein grelles Licht zu stellen. Jetzt ließe sich dieser Befund
ableiten aus der initialen Infektion durch das Christentum, aus der durch Lu-
ther in das kulturelle Blut Deutschlands transsubstantiierten Bibel. N. hat, wie
seine Lesespuren beweisen, durchaus auch die katholische Kritik an Luthers
Übersetzung zur Kenntnis genommen (Janssen 1882, 62-64).

248.
Frühere Versionen dieses Abschnitts finden sich in KGW IX 5, W I 8, 283, 20-
44 und KGW IX 2, N VII 2, 88. Geistiges Tun in Kategorien von Zeugung und
Schwangerschaft zu kleiden, ist bei N. topisch, vgl. z. B. NK KSA 6, 284, 14-16
u. FW 72. JGB 248 erweitert die Vorstellung eines weiblichen, auf Empfangen,
Brüten, Hüten und Hegen sowie eines männlichen, auf Eindringen, Befruch-
ten, Abschweifen und Neuansetzen ausgerichteten Genies im Blick auf die
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften