702 Jenseits von Gut und Böse
Blass hat Demosthenes’ „Grösse wesentlich“ an der „ausserordentliche[n]
Sorgfalt der Ausarbeitung“ festmachen wollen (Blass 1877, 71): Demosthenes
hätte seine Reden genau so vorher geschrieben und danach vorgetragen, wie
sie schriftlich überliefert sind. Dafür hatte er, so Blass, auch eine geeignete
Hörerschaft gehabt: „Und das athenische Volk war ein kunstsinnigeres Publi-
kum als irgend ein anderes, und gewohnt, in den Versammlungen nicht bloss
zu /73/ denken und zu berathen, sondern auch sich in Kunstgenuss zu weiden;
dazu nicht nur von Natur geweckten und raschen Verstandes, sondern auch
durch die beispiellose Uebung in so vielen Staats- und Gerichtsverhandlungen
noch mehr geschickt gemacht, auch Schwieriges und Kurzes zu erfassen und
zu würdigen.“ (Ebd., 72 f.) Genau diese Behauptung klingt in JGB 247 an, wäh-
rend die in MA II WS 110 noch behauptete Differenz zwischen Rede- und
Schreibstil für die griechische Antike nun gerade negiert wird (190,12 f.) - auch
hier in Übereinstimmung mit Blass.
Wenn in 190, 19 f. Demosthenes und Cicero attestiert wird, sie hätten ihre
Perioden, also die komplizierten Satzgefüge so konstruiert, dass sie aus „zwei
Mal schwellend [en] und zwei Mal absinkend [en]“ Elementen bestehen, so be-
zieht sich dies auf die rhetorische Schultradition: „Glieder wie Perioden dürfen
weder zu lang, noch zu kurz sein. Ueber vier Kola [sc. Glieder] darf die Rede
nicht hinausgehen.“ (Volkmann 1872, 434) N. hatte das für seine Vorlesung
über die antike Rhetorik von 1874 ganz einfach aus Richard Volkmanns Rheto-
rik der Griechen und Römer abgeschrieben, bezeichnenderweise die dort ge-
nannten, erst spätantiken Belegstellen für diese Schultradition unterschla-
gend: „Über 4 kwäcx darf die Periode nicht hinausgehen.“ (KGW II 4, 460, 13)
Bei seinem Hauptgewährsmann zu Demosthenes hätte N. lernen können: „Be-
züglich der Perioden- und Satzbildung ist vor allem zu berücksichtigen,
dass Demosthenes gleichwie Isokrates den Begriff einer Periode nur in sehr
unentwickelter Weise gehabt haben kann; von jenen späteren Theorien, wo-
nach eine Periode höchstens vier Glieder enthält, müssen wir völlig absehen“
(Blass 1877, 124).
190, 32-191, 2 In Deutschland aber gab es (bis auf die jüngste Zeit, wo eine Art
Tribünen-Beredtsamkeit schüchtern und plump genug ihre jungen Schwingen
regt) eigentlich nur Eine Gattung öffentlicher und ungefähr kunstmässiger
Rede: das ist die von der Kanzel herab.] Die These vom Pfarrhaus als Keimzelle
der neueren deutschen Literatur - im Übrigen auch der deutschen Philosophie
(vgl. z. B. NK KSA 6, 176, 13 f.) - ist später als heuristische Idee fester Bestand-
teil der germanistischen Literaturwissenschaft geworden (vgl. exemplarisch
Schöne 1968). In NL 1885, KSA 11, 34[102], 454, 13-18 (entspricht KGW IX 1, N
VII 1, 125, 36-42 u. 126, 1-10, dazu auch NK ÜK JGB 28) wird der Gedanke
variiert: „Man gebe Acht darauf, ob das, was die Deutschen ihre Litteratur nen-
Blass hat Demosthenes’ „Grösse wesentlich“ an der „ausserordentliche[n]
Sorgfalt der Ausarbeitung“ festmachen wollen (Blass 1877, 71): Demosthenes
hätte seine Reden genau so vorher geschrieben und danach vorgetragen, wie
sie schriftlich überliefert sind. Dafür hatte er, so Blass, auch eine geeignete
Hörerschaft gehabt: „Und das athenische Volk war ein kunstsinnigeres Publi-
kum als irgend ein anderes, und gewohnt, in den Versammlungen nicht bloss
zu /73/ denken und zu berathen, sondern auch sich in Kunstgenuss zu weiden;
dazu nicht nur von Natur geweckten und raschen Verstandes, sondern auch
durch die beispiellose Uebung in so vielen Staats- und Gerichtsverhandlungen
noch mehr geschickt gemacht, auch Schwieriges und Kurzes zu erfassen und
zu würdigen.“ (Ebd., 72 f.) Genau diese Behauptung klingt in JGB 247 an, wäh-
rend die in MA II WS 110 noch behauptete Differenz zwischen Rede- und
Schreibstil für die griechische Antike nun gerade negiert wird (190,12 f.) - auch
hier in Übereinstimmung mit Blass.
Wenn in 190, 19 f. Demosthenes und Cicero attestiert wird, sie hätten ihre
Perioden, also die komplizierten Satzgefüge so konstruiert, dass sie aus „zwei
Mal schwellend [en] und zwei Mal absinkend [en]“ Elementen bestehen, so be-
zieht sich dies auf die rhetorische Schultradition: „Glieder wie Perioden dürfen
weder zu lang, noch zu kurz sein. Ueber vier Kola [sc. Glieder] darf die Rede
nicht hinausgehen.“ (Volkmann 1872, 434) N. hatte das für seine Vorlesung
über die antike Rhetorik von 1874 ganz einfach aus Richard Volkmanns Rheto-
rik der Griechen und Römer abgeschrieben, bezeichnenderweise die dort ge-
nannten, erst spätantiken Belegstellen für diese Schultradition unterschla-
gend: „Über 4 kwäcx darf die Periode nicht hinausgehen.“ (KGW II 4, 460, 13)
Bei seinem Hauptgewährsmann zu Demosthenes hätte N. lernen können: „Be-
züglich der Perioden- und Satzbildung ist vor allem zu berücksichtigen,
dass Demosthenes gleichwie Isokrates den Begriff einer Periode nur in sehr
unentwickelter Weise gehabt haben kann; von jenen späteren Theorien, wo-
nach eine Periode höchstens vier Glieder enthält, müssen wir völlig absehen“
(Blass 1877, 124).
190, 32-191, 2 In Deutschland aber gab es (bis auf die jüngste Zeit, wo eine Art
Tribünen-Beredtsamkeit schüchtern und plump genug ihre jungen Schwingen
regt) eigentlich nur Eine Gattung öffentlicher und ungefähr kunstmässiger
Rede: das ist die von der Kanzel herab.] Die These vom Pfarrhaus als Keimzelle
der neueren deutschen Literatur - im Übrigen auch der deutschen Philosophie
(vgl. z. B. NK KSA 6, 176, 13 f.) - ist später als heuristische Idee fester Bestand-
teil der germanistischen Literaturwissenschaft geworden (vgl. exemplarisch
Schöne 1968). In NL 1885, KSA 11, 34[102], 454, 13-18 (entspricht KGW IX 1, N
VII 1, 125, 36-42 u. 126, 1-10, dazu auch NK ÜK JGB 28) wird der Gedanke
variiert: „Man gebe Acht darauf, ob das, was die Deutschen ihre Litteratur nen-