Stellenkommentar JGB 253, KSA 5, S. 196 715
253.
Aus W 11 teilt KSA 14, 370 f. folgende Vorarbeit mit: „Es giebt Wahrheiten, die
nur von mittelmäßigen Köpfen erkannt werden können; wir sind jetzt zb. unter
dem Einfluß der englischen Mittelmäßigkeit (Darwin, Mill, Spencer) und wol-
len die Nützlichkeit davon, daß solche Geister zeitweilig herrschen, nicht an-
zweifeln. Es wäre ein Irrthum, gerade die höchsten Naturen für besonders ge-
schickt zu halten, Wahrheiten zu entdecken: sie haben Etwas zu sein und
Etwas darzustellen, wogegen gerechnet jede Wahrheit gar nicht in Betracht
kommt. Es ist die ungeheure Kluft zwischen Können und Wissen-!
Namentlich müssen jetzt die wissenschaftlichen Entdecker in gewissem Sinn
arme und einseitige Geister sein.“ Den Anfang des späteren Abschnitts JGB 253
führte N. auch in NL 1885, KSA 11, 42[3], 693, 5f. als Unterkapitel von „Mensch-
liches, Allzumenschliches. I Metaphysica“ (KSA 11, 692, 20) an. Eine Vor-
fassung von JGB 253, KSA 5,196, 23-197,14 bietet Dns Mp XVI, Bl. 41r bei Röllin
2012, 205 f.
196, 24-32 es giebt Wahrheiten, die nur für mittelmässige Geister Reize und
Verführungskräfte besitzen: — auf diesen vielleicht unangenehmen Satz wird man
gerade jetzt hingestossen, seitdem der Geist achtbarer, aber mittelmässiger Eng-
länder — ich nenne Darwin, John Stuart Mill und Herbert Spencer — in der mittle-
ren Region des europäischen Geschmacks zum Übergewicht zu gelangen anhebt.
In der That, wer möchte die Nützlichkeit davon anzweifeln, dass zeitweilig sol-
che Geister herrschen?] Die Kritik an der Dominanz des Mittelmäßigen gehört
seit jeher zu den topischen Elementen eines elitären Kulturverständnisses, das
sich in diversen moralistischen Sentenzen verdichtet hat, etwa bei dem von N.
gelesenen Carl Julius Weber: „Die Furcht vor den Köpfen ist eine Hauptursa-
che, daß mittelmäßige Geister besser in der Welt gedeihen als ausgezeichnete“
([Weber] 1868, 1, 323). N.s Beschäftigung mit Darwin (vgl. NK 28, 27), Mill (vgl.
z. B. NK KSA 6, 111, 13 f.) und Spencer (vgl. z. N. NK KSA 6, 133, 23-25, ferner
Solms-Laubach 2007, 71-74) war intensiv und in den publizierten Äußerungen
von unbedingter Ablehnung bestimmt, obwohl er beispielsweise von Mills Frei-
heitskonzeption oder Darwins Selektionskonzeption stärker zehrte, als er offen
zuzugeben bereit war (vgl. Fornari 2009 u. Sommer 2010b). Wenn JGB 253 die
Engländer und insbesondere Mill als mittelmäßige Geister charakterisiert, so
ist das die ironische Reprise einer von Mill in On Liberty (dazu auch Buckle
1867, 24-117) vorgetragenen, N. wohlbekannten Argumentation, dass sich in
den sich demokratisierenden Gesellschaften Mittelmäßigkeit immer stärker
durchsetze und exzentrische Individualität wesentlich erschwere: „In der Poli-
tik gilt es bereits als ein Gemeinplatz, daß die öffentliche Meinung die Welt
beherrscht. Die einzige Macht, die diesen Namen noch verdient, ist die der
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Aus W 11 teilt KSA 14, 370 f. folgende Vorarbeit mit: „Es giebt Wahrheiten, die
nur von mittelmäßigen Köpfen erkannt werden können; wir sind jetzt zb. unter
dem Einfluß der englischen Mittelmäßigkeit (Darwin, Mill, Spencer) und wol-
len die Nützlichkeit davon, daß solche Geister zeitweilig herrschen, nicht an-
zweifeln. Es wäre ein Irrthum, gerade die höchsten Naturen für besonders ge-
schickt zu halten, Wahrheiten zu entdecken: sie haben Etwas zu sein und
Etwas darzustellen, wogegen gerechnet jede Wahrheit gar nicht in Betracht
kommt. Es ist die ungeheure Kluft zwischen Können und Wissen-!
Namentlich müssen jetzt die wissenschaftlichen Entdecker in gewissem Sinn
arme und einseitige Geister sein.“ Den Anfang des späteren Abschnitts JGB 253
führte N. auch in NL 1885, KSA 11, 42[3], 693, 5f. als Unterkapitel von „Mensch-
liches, Allzumenschliches. I Metaphysica“ (KSA 11, 692, 20) an. Eine Vor-
fassung von JGB 253, KSA 5,196, 23-197,14 bietet Dns Mp XVI, Bl. 41r bei Röllin
2012, 205 f.
196, 24-32 es giebt Wahrheiten, die nur für mittelmässige Geister Reize und
Verführungskräfte besitzen: — auf diesen vielleicht unangenehmen Satz wird man
gerade jetzt hingestossen, seitdem der Geist achtbarer, aber mittelmässiger Eng-
länder — ich nenne Darwin, John Stuart Mill und Herbert Spencer — in der mittle-
ren Region des europäischen Geschmacks zum Übergewicht zu gelangen anhebt.
In der That, wer möchte die Nützlichkeit davon anzweifeln, dass zeitweilig sol-
che Geister herrschen?] Die Kritik an der Dominanz des Mittelmäßigen gehört
seit jeher zu den topischen Elementen eines elitären Kulturverständnisses, das
sich in diversen moralistischen Sentenzen verdichtet hat, etwa bei dem von N.
gelesenen Carl Julius Weber: „Die Furcht vor den Köpfen ist eine Hauptursa-
che, daß mittelmäßige Geister besser in der Welt gedeihen als ausgezeichnete“
([Weber] 1868, 1, 323). N.s Beschäftigung mit Darwin (vgl. NK 28, 27), Mill (vgl.
z. B. NK KSA 6, 111, 13 f.) und Spencer (vgl. z. N. NK KSA 6, 133, 23-25, ferner
Solms-Laubach 2007, 71-74) war intensiv und in den publizierten Äußerungen
von unbedingter Ablehnung bestimmt, obwohl er beispielsweise von Mills Frei-
heitskonzeption oder Darwins Selektionskonzeption stärker zehrte, als er offen
zuzugeben bereit war (vgl. Fornari 2009 u. Sommer 2010b). Wenn JGB 253 die
Engländer und insbesondere Mill als mittelmäßige Geister charakterisiert, so
ist das die ironische Reprise einer von Mill in On Liberty (dazu auch Buckle
1867, 24-117) vorgetragenen, N. wohlbekannten Argumentation, dass sich in
den sich demokratisierenden Gesellschaften Mittelmäßigkeit immer stärker
durchsetze und exzentrische Individualität wesentlich erschwere: „In der Poli-
tik gilt es bereits als ein Gemeinplatz, daß die öffentliche Meinung die Welt
beherrscht. Die einzige Macht, die diesen Namen noch verdient, ist die der