Stellenkommentar JGB 257, KSA 5, S. 204 729
ist bei N. ein in der Tat öfter wiederkehrendes Motiv (vgl. z. B. M 199-201, KSA
3, 173-176). Zu denken gibt aber doch, dass das im Titel auf die Vornehmheit
anspielende letzte Hauptstück in JGB zugleich das einzige ist, das ein Fragezei-
chen im Titel führt. Obwohl JGB 287 die Titelfrage ausdrücklich wiederholt
(232, 25f.) und am Ende dieses Abschnitts eine Bestimmung über die „Ehr-
furcht vor sich“ (233, 15f.) stipuliert, bleibt das Neunte Hauptstück doch
eine systematisch organisierte Antwort auf diese Titelfrage schuldig (vgl. Steg-
maier 2014, 184) oder bricht die Antwortangebote in einem Kaleidoskop von
Möglichkeiten. Bei aller Diversität der in diesem Hauptstück versammelten 40
Abschnitte lässt sich doch beobachten, dass zu Beginn gehäuft solche stehen,
die gesellschaftlich-politische und gesamtkulturelle Themen zum Gegenstand
haben, während gegen Ende immer stärker das Individuum oder die „Seele“
fokussiert wird (vgl. Tongeren 1989, 139). Im Laufe dieses Hauptstücks ver-
schiebt die in Frage stehende Vornehmheit ihren Schwerpunkt von sozialer
Segregation und Stratifikation - von dem, was eine Menschengruppe von an-
deren Menschengruppen unterscheidet - hin zu einem intraindividuellen Ge-
schehen, zu einer Haltung.
Allerdings ist gar nicht so sicher, ob das wahlweise sprechende „Wir“ oder
„Ich“ überhaupt Vornehmheit in Anspruch nehmen oder gewinnen will, steht
doch permanent der Verdacht im Raum, dass die Philosophie mit ihrem steten
Fragen, ihrem Unvermögen, die Dinge so zu belassen, wie sie sind, im Kern
unvornehm sei. Dafür muss exemplarisch der Ironiker Sokrates herhalten (vgl.
z. B. NK ÜK JGB 287). Auch der Philosoph der Zukunft scheint bestehende Ord-
nungen nicht einfach zu akzeptieren, sondern geltende Moralen mit Leiden-
schaft zu subvertieren. Gibt es womöglich gar keine vornehmen Philosophen -
im Gegensatz zu denjenigen N.-Interpreten, die Vornehmheit und Philosophie
fest assoziieren? Wäre das Neunte Hauptstück dann eine Form der Rollenrede,
die sich mit ihren Vornehmheitsappellen gar nicht zur Hauptsache an die Phi-
losophen der Zukunft wendet, sondern an unbedarftere Adepten, denen nahe-
gelegt wird, neuen Gehorsam einzuüben? Zur Struktur des Neunten Haupt-
stücks siehe Tongeren 1989, 137-171, zur Interpretation Stegmaier 2014.
257.
Dieser berühmte Abschnitt, der nach Meinung vieler Interpreten N.s politische
Präferenz für eine Sklavenhaltergesellschaft artikuliere (vgl. NK 205, 4-8), aber
doch in erster Linie nicht normative, sondern historische Thesen formuliert -
nämlich zu den das Persönlichkeitsprofil bestimmenden Folgen, zur selektori-
schen Wirkung sozialer Distanzgewinne -, endet in der Druckfassung mit einer
Charakterisierung der über Schwächere Herr gewordenen „Barbaren“ als den
ist bei N. ein in der Tat öfter wiederkehrendes Motiv (vgl. z. B. M 199-201, KSA
3, 173-176). Zu denken gibt aber doch, dass das im Titel auf die Vornehmheit
anspielende letzte Hauptstück in JGB zugleich das einzige ist, das ein Fragezei-
chen im Titel führt. Obwohl JGB 287 die Titelfrage ausdrücklich wiederholt
(232, 25f.) und am Ende dieses Abschnitts eine Bestimmung über die „Ehr-
furcht vor sich“ (233, 15f.) stipuliert, bleibt das Neunte Hauptstück doch
eine systematisch organisierte Antwort auf diese Titelfrage schuldig (vgl. Steg-
maier 2014, 184) oder bricht die Antwortangebote in einem Kaleidoskop von
Möglichkeiten. Bei aller Diversität der in diesem Hauptstück versammelten 40
Abschnitte lässt sich doch beobachten, dass zu Beginn gehäuft solche stehen,
die gesellschaftlich-politische und gesamtkulturelle Themen zum Gegenstand
haben, während gegen Ende immer stärker das Individuum oder die „Seele“
fokussiert wird (vgl. Tongeren 1989, 139). Im Laufe dieses Hauptstücks ver-
schiebt die in Frage stehende Vornehmheit ihren Schwerpunkt von sozialer
Segregation und Stratifikation - von dem, was eine Menschengruppe von an-
deren Menschengruppen unterscheidet - hin zu einem intraindividuellen Ge-
schehen, zu einer Haltung.
Allerdings ist gar nicht so sicher, ob das wahlweise sprechende „Wir“ oder
„Ich“ überhaupt Vornehmheit in Anspruch nehmen oder gewinnen will, steht
doch permanent der Verdacht im Raum, dass die Philosophie mit ihrem steten
Fragen, ihrem Unvermögen, die Dinge so zu belassen, wie sie sind, im Kern
unvornehm sei. Dafür muss exemplarisch der Ironiker Sokrates herhalten (vgl.
z. B. NK ÜK JGB 287). Auch der Philosoph der Zukunft scheint bestehende Ord-
nungen nicht einfach zu akzeptieren, sondern geltende Moralen mit Leiden-
schaft zu subvertieren. Gibt es womöglich gar keine vornehmen Philosophen -
im Gegensatz zu denjenigen N.-Interpreten, die Vornehmheit und Philosophie
fest assoziieren? Wäre das Neunte Hauptstück dann eine Form der Rollenrede,
die sich mit ihren Vornehmheitsappellen gar nicht zur Hauptsache an die Phi-
losophen der Zukunft wendet, sondern an unbedarftere Adepten, denen nahe-
gelegt wird, neuen Gehorsam einzuüben? Zur Struktur des Neunten Haupt-
stücks siehe Tongeren 1989, 137-171, zur Interpretation Stegmaier 2014.
257.
Dieser berühmte Abschnitt, der nach Meinung vieler Interpreten N.s politische
Präferenz für eine Sklavenhaltergesellschaft artikuliere (vgl. NK 205, 4-8), aber
doch in erster Linie nicht normative, sondern historische Thesen formuliert -
nämlich zu den das Persönlichkeitsprofil bestimmenden Folgen, zur selektori-
schen Wirkung sozialer Distanzgewinne -, endet in der Druckfassung mit einer
Charakterisierung der über Schwächere Herr gewordenen „Barbaren“ als den