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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0766
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746 Jenseits von Gut und Böse

Die Vielfalt möglicher Moralen hat sich auch in der Eingangssequenz 208, 20 f.
von JGB 260 erhalten, um dann aber auf die Erkenntnis zuzusteuern, dass es
„zwei Grundtypen“ (208, 24) der Moral gebe, die offensichtlich universell auf-
treten, nämlich „Herren-Moral und Sklaven-Moral“ (208, 25f.). JGB
260 stellt die Einsicht in diese Grundunterscheidung als das Resultat einer
langwierigen Forschungstätigkeit dar, die jedoch bloß belegt wird mit der Me-
tapher der „Wanderung“, die Unabsichtlichkeit und Lockerheit indiziert, als ob
dem Sprechenden die Erkenntnisse en passant zuteil geworden wären. „Typen-
lehre“ in JGB 186 klang demgegenüber härter, wissenschaftlich solider. Mit
„Wanderung“ scheint dem dort formulierten Anspruch gegenüber eine gewisse
Abspannung eingetreten zu sein, die jedoch lediglich rhetorische Eingangsgar-
nitur ist, um den harten Dualismus zweier Moraltypen einzuführen, während
JGB 186 die Möglichkeit einer irreduziblen Moralenpluralität noch aufrecht er-
halten hat. In JGB 260 findet also im Vergleich zu JGB 186 ein erheblicher Kom-
plexitätsabbau statt (vgl. Brusotti 2014b, 114-117); gleichzeitig verhehlt der lo-
ckere Einstieg mit der „Wanderung“, dass der Leser keine wirklichen Auf-
schlüsse darüber bekommt, wie der Sprechende den Weg von JGB 186 zu JGB
260 tatsächlich zurückgelegt hat und und auf welcher empirischen Basis seine
Behauptung beider Moral-Grundtypen beruhen soll. Die Forschungstätigkeit
wird behauptet, aber nicht nachvollziehbar geleistet. Trägt dann Zur Genealo-
gie der Moral diese Arbeit nach?
208, 25f. Esgiebt Herren-Moral und Sklaven-Moral] NL 1883, KSA 10,
7[22], 245, 32-246, 1 formuliert diesen Satz identisch, womit N. erstmals diese
nachmals berüchtigte Losung ausgab, die bei ihm gar nicht so häufig und nur
während weniger Jahre wiederkehrte (die anderen Stellen sind NL 1884, KSA
11, 25[345], 103, 8; 26[40], 186, 10; 26[184], 198, 7; 27[42], 286, 10; NL 1885, KSA
12, 1[186], 52, 3, entspricht KGW IX 2, N VII 2, 78, 28; GM I 10, KSA 5, 270, 31
u. 271, 4 u. GM 111, KSA 5, 274, 13). Das Wort „Sklavenmoral“ konnte N. schon
bei Schopenhauer finden, und zwar just in einem Passus gegen Kants Grundle-
gung zur Metaphysik der Sitten, aus dem N. in NL 1884, KSA 11, 26[84], 170f.
zitierte (und den er in JGB 32 verwertete, vgl. NK 50, 31-51, 7): ,,R(osenkranz},
[sc. Kant 1838, 8,] S. 211: ,Die Gesinnung, die dem Menschen, das moralische
Gesetz zu befolgen, obliegt, ist, es aus Pflicht, nicht aus freiwilliger
Zuneigung und auch allenfalls unbefohlener, von selbst gern unter-
nommener Bestrebung zu befolgen/ — Befohlen muß es seyn! Welche Skla-
venmoral!“ (Schopenhauer 1873-1874, 4/2,134) Bei Schopenhauer ist das Wort
freilich nur ein bitterer Ausruf und kein Versuch, wie bei N., die menschliche
Welt mit Hilfe dieser Vokabel und ihres Gegenteils, der Herrenmoral, in zwei
Lagern (und unterschiedlichen Mischformen, vgl. KSA 5, 208, 26-31) endgültig
zu kartographieren (vgl. auch Goedert 2013, 40).
 
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