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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0776
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756 Jenseits von Gut und Böse

sich dann „mit Hülfe der Historie, vorstellig machen, dass, seit unvordenkli-
chen Zeiten, in allen irgendwie abhängigen Volksschichten der gemeine
Mensch nur Das war, was er galt“ (213, 17-20).
Diese historische Explikation folgt dann in der zweiten Hälfte von JGB 261,
verbunden mit dem Ausblick, dass durch die allgemeine Demokratisierung in
der Gegenwart allgemein und bei immer mehr Menschen die Tendenz zuneh-
me, sich selbst ungeachtet der Wertschätzung anderer aus eigenem Antrieb
wertzuschätzen. Den Ausblick auf diese Tendenz könnte man immerhin als
eine mit der Demokratisierung einhergehende Aristokratisierung der Gesell-
schaft deuten und damit die Diagnose von der allgemeinen Verpöbelung kon-
terkariert sehen. Diese Option, die eine viel versöhnlichere Sicht auf die Gegen-
wart impliziert, macht JGB 261 jedoch nicht ausdrücklich namhaft, sondern
beharrt auf dem „Atavismus“ der Eitelkeit. Gleichwohl macht der Text den Le-
ser zum Komplizen des „vornehmen Menschen“, indem er ihm dessen (vorgeb-
liche) Sichtweise aufdrängt, erstens das anfängliche Unverständnis und die
Ratlosigkeit gegenüber dem Eitlen, zweitens dessen Bedürfnis nach histori-
scher Erklärung, die dann auch brav folgt. Diese Suggestion, der Leser habe
dasselbe Interesse wie der vornehme Mensch, nämlich eine Erklärung der rät-
selhaften Lebensform des Eitlen, unterstellt, der Leser sei selbst uneitel und
damit vornehm. Diese Suggestion folgt wiederum der auf der sozialhistori-
schen Ebene insinuierten Aristokratisierungstendenz.
213, 33 f. (und seiner Ursache, der Blutvermischung von Herren und Sklaven)]
Im Druckmanuskript danach gestrichen: und so oft in der Geschichte etwas
Ähnliches sich begeben hat, -“ (KSA 14, 372). Die Klammerbemerkung und
das, was sie erläutern soll, nämlich das „langsame[.] Heraufkommen der de-
mokratischen Ordnung“ (213, 32 f.), klingt wie das Echo einer Passage in Hell-
walds Culturgeschichte, die das (angebliche) Phänomen am Beispiel Roms erör-
tert: „Die Geschichte des Römerthums ist zunächst die Geschichte der allmähli-
gen Erweiterung des Volksbegriffes. Anfänglich überall in engherzigster
Weise aufgefasst, indem er sich nothwendig auf die durchaus gleiche Abstam-
mung, auf die Blutsreinheit beschränkt, woraus auch die Aristokratie ur-
sprünglich hervorgeht, handelt es sich später in das ,Volk‘ auch Solche aufzu-
nehmen, die von anderem Blute, durch ihre Abstammung nicht dazu ge-
hören, nach den Anschauungen jener Zeiten also auch nicht berechtigt
sind sich dazu zu zählen, denn das Recht schaffen, wie bemerkt, Jene, die die
Gewalt haben. Ein besiegter Volksstamm ist daher völlig rechtlos, und ein sol-
cher ist es zumeist, der in den Volksbegriff aufgenommen werden soll. Diese
Ausdehnung des Begriffes und der damit verknüpften Rechte geschieht nur
sehr langsam, sehr allmählig, wenn endlich das Bewusstsein des Stammesun-
terschiedes zu verlöschen beginnt. Die anfangs streng verpönte, später aber
 
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