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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0785
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Stellenkommentar JGB 265, KSA 5, S. 219 765

265.
Eine der Druckversion recht ähnliche Vorstufe findet sich in KGW IX 5, W I 8,
Hl. Dort fehlt aber z. B. noch die Analogisierung der „vornehmen Seelen“ mit
„Sternen“ und die Applikation einer entsprechenden „himmlischen Mechanik“
(220, 9 f. u. 22, 12). Dieser ambitionierte Vergleich stellt den Sprecher von JGB
265 als Entdecker einer psychostellaren Himmelsmechanik auf eine Stufe mit
Kopernikus, Kepler oder Newton. Darin besteht die Quintessenz des Ab-
schnitts, der nach dem Vorangegangenen den nicht weiter erstaunlichen „Ego-
ismus“ (219, 27) der „vornehmen Seele“ als eine Grundtatsache hinstellt, weil
sich diese „vornehme Seele“ anderer, niedriger gearteter Wesen nur als Mittel
bedient und in ihnen keinen Selbstzweck sehen kann. Natürlich liegt darin
wieder eine bewusste Provokation des altabendländischen Moralkonsenses,
zumal der Selbstzweckformel von Kants Kategorischem Imperativ (vgl. NK 110,
3-11; NK 227, 10-13 u. NK ÜK JGB 207) und der diversen Formen des ethischen
Anti-Egoismus, die N. aus seinen Lektüren bekannt waren (beispielsweise von
Schopenhauer, Eduard von Hartmann und Spencer). Das Grundproblem von
JGB 263 und JGB 264 wiederholt sich hier, nämlich die Suggestion eines subs-
tantialistischen Persönlichkeitskerns, der vornehm (oder unvornehm) und un-
veränderlich ist, während parallel dazu das historische Gewordensein einer
solchen Persönlichkeit, ihre Prägungsbedingtheit ausgewiesen wird. Dazu
kommt die unversönliche Binarität von „vornehm“ und „unvornehm“, als ob
all die Beispiele den Lesern nicht unentwegt die mannigfaltigsten Abschattun-
gen von Vornehmheit und Unvornehmheit vor Augen stellten. Die „vornehme
Seele“, die sich anderer Menschen als Sklaven bedient, wird selber sehr leicht
zum Gegenstand von Instrumentalisierungen, wenn ein großes Individuum wie
Napoleon ein ganzes Volk in seinen Dienst zwingt.
219, 30-220, 3 Die vornehme Seele nimmt diesen Thatbestand ihres Egoismus
ohne jedes Fragezeichen hin, auch ohne ein Gefühl von Härte, Zwang, Willkür
darin, vielmehr wie Etwas, das im Urgesetz der Dinge begründet sein mag: —
suchte sie nach einem Namen dafür, so würde sie sagen „es ist die Gerechtigkeit
selbst“.] In KGW IX 5, W I 8, 227, 8-12 heißt es stattdessen: „Die vornehme
Seele nimmt dies ohne ein Gefühl von Härte, Zwang, Willkür hin, ''vielmehr''
als wohlbegründet im Urgesetz der Dinge, ja als die Gerechtigkeit selber.“ In
dieser ursprünglichen Fassung klingt das noch platonisierender, bedeutet Ge-
rechtigkeit gemäß Platons Politeia 433a doch, „das Seine tun und nicht vieler-
lei treiben“ („to toi avTov npaTTEiv Kai pi) noXunpaypovEiv öiKaioauvri“), vgl.
NK 227, 4-8. Woher für einen Denker, der Begriffssetzungen historisch-genealo-
gisch verflüssigt, ein „Urgesetz der Dinge“ kommen soll - bereits JGB 213, KSA
 
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