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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0788
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768 Jenseits von Gut und Böse

ist nicht ebenso einfach verständlich und war darum bei den Alten Gegenstand
besonderer Aufmerksamkeit [...]. Vielleicht unter dem mitwirkenden Einflüsse
der engeren Beziehung, welche der Begriff des Wahrhaften erhalten hatte, ge-
wöhnte man sich dabei vorherrschend an den zu denken, der sein eigenes Wis-
sen, Können und Thun geflissentlich herabmindert; offenbar war diese Auffas-
sung zur Zeit des Aristoteles die allgemeine und war es wohl etwa seit dem
Auftreten des Sokrates geworden, der gewissermaassen als Typus einer sol-
chen für die Griechen ziemlich befremdenden Art des Verhaltens galt, weil man
seine fortwährenden Versicherungen nichts zu wissen und sein Streben seine
eigenen Gedanken aus Anderen herauszulocken nicht anders zu deuten wuss-
te. Seine Weise machte durchaus den Eindruck dessen, was durch unsere Re-
dewendung »hinter dem Berge halten4 bezeichnet wird, mochte aber /400/ von
Vielen sogar als das empfunden werden, was wir »Hinterhältigkeit4 nennen,
und in der That ist der eine wie der andere deutsche Ausdruck geeignet um im
Ungefähren wiederzugeben, was hier und da in den Dialogen Platon’s unwilli-
ge Mitunterredner meinen, wenn sie das Betragen des Sokrates in substantivi-
scher oder verbaler Form unter den Begriff des Eiron bringen [...]. Der Ueber-
gang aus der schlimmeren in die mildere Bedeutung des Wortes erklärt sich
schon hieraus einigermaassen; dazu tritt aber als weiteres Mittelglied der Um-
stand, dass der Selbstverkleinerer fast unvermeidlich die Anderen im Verhält-
niss zu sich ungebührlich erhebt und dass dies, da es seiner wahren Meinung
nicht entspricht, auf eine Verhöhnung derselben hinauszulaufen scheint44
(Schmidt 1882, 2, 399 f., vgl. auch 481, Anm. 9). Der Ironiker Sokrates erscheint
demzufolge als Prototyp eines Selbstverkleinerers - N.s Spätwerk seinerseits
streicht immer wieder die pöbelhafte Abkunft und die pöbelhafte Denktendenz
des Sokrates heraus, mit dem die griechische Vornehmheit in die Brüche ge-
gangen sei.
268.
Eine Nachlassaufzeichnung nimmt zwar den gedanklichen und textlichen
Hauptbestand von JGB 268 vorweg, beantwortet aber gerade nicht die hier ein-
gangs gestellte Frage: „Was ist zuletzt die Gemeinheit?“ (221, 8), sondern dient
dem Sprechenden zur Erklärung, weshalb seine eigenen Schriften auf so wenig
Resonanz stießen. In der ursprünglichen, unkorrigierten Form lautete dieser
von N. später durchgestrichene Text: „Worte sind Tonzeichen für Begriffe: Be-
griffe aber sind mehr oder weniger sichere Gruppen wiederkehrender, zusam-
men kommender Empfindungen. Daß man sich versteht, dazu gehört noch
nicht, daß man dieselben Worte gebraucht: man muß dieselben Worte auch
für die selbe Gattung innerer Erlebnisse brauchen — und man muß diese ge-
 
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