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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0790
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770 Jenseits von Gut und Böse

durch ihn der bezeichneten Sache angesehen werden kann, dessen Wahrneh-
mung zufolge unserer Ideen-Association die /49/ Vorstellung bei uns und an-
dern hervorruft“ (Denzinger 1836, 48 f.).
222, 2-7 Die Furcht vor dem „ewigen Missverständnisse das ist jener wohlwol-
lende Genius, der Personen verschiedenen Geschlechts so oft von übereilten Ver-
bindungen abhält, zu denen Sinne und Herz rathen — und nicht irgend ein
Schopenhauerischer „Genius der Gattung“ —/] In seinen frühen Schriften hatte
N. Schopenhauers Begriff vom „Genius der Gattung“ durchaus zustimmend be-
müht (vgl. z. B. NK KSA 1, 33, 27-31), bis er dann in NL 1876, KSA 8, 19[111],
357, 12-16 notierte: „Die Liebe ist von Schopenhauer gar nicht erklärt. [...] Mit
dem ,Genius der Gattung4 ist gar nichts gewonnen.“ Die Wendung hat Scho-
penhauer in seiner „Metaphysik der Geschlechtsliebe“ benutzt: „Es liegt etwas
ganz Eigenes in dem tiefen, unbewußten Ernst, mit welchem zwei junge Leute
verschiedenen Geschlechts, die sich zum ersten Male sehen, einander betrach-
ten; dem forschenden und durchdringenden Blick, den sie auf einander wer-
fen; der sorgfältigen Musterung, die alle Züge und Theile ihrer beiderseitigen
Personen zu erleiden haben. Dieses Forschen und Prüfen nämlich ist die Me-
ditation des Genius der Gattung über das durch sie Beide mögliche
Individuum und die Kombination seiner Eigenschaften. Nach dem Resultat
derselben fällt der Grad ihres Wohlgefallens an einander und ihres Begehrens
nach einander aus. Dieses kann, nachdem es schon einen bedeutenden Grad
erreicht hatte, plötzlich wieder erlöschen, durch die Entdeckung von Etwas,
das vorhin unbemerkt geblieben war. — Dergestalt also meditirt in Allen, die
zeugungsfähig sind, der Genius der Gattung das kommende Geschlecht.“
(Schopenhauer 1873-1874, 3, 629; vgl. ebd., 630; 634 f.) Dabei agiert dieser Ge-
nius, der die Produktion von Nachkommen im Sinne hat, gegen die persönli-
chen Interessen der Involvierten: „In der That führt der Genius der Gattung
durchgängig Krieg mit den schützenden Genien der Individuen, ist ihr Verfol-
ger und Feind, stets bereit das persönliche Glück schonungslos zu zerstören,
um seine Zwecke durchzusetzen“ (ebd., 3, 638).
Diese „Genien der Individuen“ gewinnen nach JGB 268 in Fragen der Ge-
schlechtsliebe wieder die Oberhand, indem sie sich der liebenden Verbindung
mit einer anderen Person wegen möglichen Missverstehens erfolgreich wider-
setzen. Während Schopenhauer unter dem Euphemismus „Genius der Gat-
tung“ eine Art von Sexualtrieb-Determinismus (der eine Ausfaltung des einen
Willens ist) propagierte, welcher dem Interesse der Reproduktion dient, wird
dieses Moment in JGB 268 stark zurückgedrängt, aber nicht zugunsten eines
irgendwie freien Willens bei der Partnerwahl, sondern zugunsten eines Deter-
minismus der Paarung, der ähnlich wie bei Schopenhauer darauf hinausläuft,
dass die »Richtigen4, die einander Verstehenden (und damit mittelbar für den
 
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