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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0795
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Stellenkommentar JGB 271, KSA 5, S. 225-226 775

226, 15 Ehrfurcht „vor der Maske“] Dieses Motiv kehrt travestiert in JGB 278,
KSA 5, 229 wieder. In seiner Besprechung von JGB notierte Eduard von Hart-
mann: „Nietzsche behauptet zwar, daß es zur feineren Menschlichkeit gehöre,
Ehrfurcht vor der Maske zu haben und nicht an falscher Stelle Psychologie und
Neugierde zu treiben ([...]); allein solche Ehrfurcht kann nur der schweigen-
d e Denker und Dulder beanspruchen, und nicht der Schriftsteller, der durch
seine Büchermasken den Sinn der Menschen zu verwirren sucht“ (Hartmann
1898, 52).
271.
Vorbereitende Aufzeichnungen zu JGB 271 finden sich in KGW IX 2, N VII 2,
87 f. und KGW IX 5, W I 8, 201 f.
226, 21 sie „können sich nicht riechen!“] In den Schriften des Jahres 1888 (na-
mentlich in AC 46) wird behauptet, sozial Niedriggestellte, „polnische Juden“
sowie „erste Christen“ röchen schlecht, vgl. NK KSA 6, 223, 22-25. Während
dieser schlechte Geruch dort den Anschein einer objektiven Gegebenheit be-
kommt, wird in 226, 21 auf das jeweils subjektive Empfinden der Urteilenden
abgehoben, denen ihr Eigengeruch zusagen wird, der Geruch des anderen je-
doch missfällt. Die Redensart ist durchaus schon vor N. sprichwörtlich, wenn
auch nicht sehr häufig belegt - so bei Wander 1867-1880, 5, 1683 ohne Nach-
weis in der Fassung: „Sie können sich beide einander nicht riechen.“
226, 22-25 Der höchste Instinkt der Reinlichkeit stellt den mit ihm Behafteten
in die wunderlichste und gefährlichste Vereinsamung, als einen Heiligen: denn
eben das ist Heiligkeit — die höchste Vergeistigung des genannten Instinktes.] Im
Plural werden den „ersten Christen“ in AC 46, KSA 6, 223, 29 „die Instinkte der
Reinlichkeit“ abgesprochen. Auch hier (vgl. NK 226, 21) wird historisch
objektiviert, was in JGB 271 dem subjektiven Urteil anheimgestellt bleibt. In
JGB 271 wird der Reinlichkeitsinstinkt mit heiligmäßiger Einsamkeit, ja explizit
mit Heiligkeit enggeführt, während in AC die der geistigen Reinlichkeit unfähi-
gen Christen am lautstärksten auf Heiligkeit Anspruch erheben. (Der Singular
„Instinkt der Reinlichkeit“ kommt auch in einer EH-Vorarbeit vor, vgl. NK
KSA 6, 322, 1-328, 25.) Wenn JGB 271 die Reinlichkeit beschwört, ist offensicht-
lich ein intellektuelles Vermögen gemeint, das allerdings Konkretisierung
vermissen lässt: Wovon soll sich der auf Heiligkeit aspirierende Einsame fern-
halten, um geistig rein(lich) zu sein? Von demokratischen (Vor-)Urteilen der
Menge, von pessimistischen Weltverneinungsideologemen, von religiösen
Überzeugungen? Der zur Metaphernbildung benutzte Reinlichkeitsinstinkt war
im zeitgenössischen medizinisch-epidemiologischen Hygiene-Diskurs fest ver-
 
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