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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0796
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776 Jenseits von Gut und Böse

wurzelt: „Von Alters her sehen wir die Menschen im Kampfe mit ihren eigenen
Auswurfstoffen begriffen und darauf bedacht, dieselben dem Auge und auch
dem Geruchsinn zu entziehen. Als Haupttriebfedern dienten hierbei: erstens
der dem Menschen angeborene, wenn auch oft sehr rudimentär entwickelte
Reinlichkeitsinstinkt, und zweitens die Furcht vor Seuchen, deren Entstehung
von jeher mit Verunreinigung der Luft oder des Wassers in Zusammenhang
gebracht wurde. Es ist für den Hygieniker von Interesse zu wissen, mit welchen
Mitteln zu verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen Verhältnissen dieser
Kampf geführt wurde“ (Erismann 1882, 75).
272.
227, 4-8 Zeichen der Vornehmheit: nie daran denken, unsre Pflichten zu Pflich-
ten für Jedermann herabzusetzen; die eigne Verantwortlichkeit nicht abgeben
wollen, nicht theilen wollen; seine Vorrechte und deren Ausübung unter seine
Pflichten rechnen.] Was N. hier als charakteristisch für „Vornehmheit“ aus-
weist, ist die Adaption der von Platon begründeten Vorstellung der iöionpayia
(vgl. Nomoi 875b, dort allerdings negativ besetzt), der zufolge Gerechtigkeit
bedeutet, dass jeder das Seine tut (vgl. Politeia 433a-435c u. 443b-444d, dazu
NK 219, 30-220, 3). In der lateinischen Formel „suum cuique“ (vgl. FW 242,
KSA 3, 514, 7, dazu Brusotti 1997, 474 f.; Marcus Tullius Cicero: De legibus I 6
19 u. De officiis I 15) ist diese Vorstellung zum Leitmotiv des abendländischen
Verständnisses der Verteilungsgerechtigkeit geworden, vgl. NK 144, 11-13. JGB
272 trägt nun den Begriff der Pflicht in diesen Gedanken ein, um „Pflicht“ radi-
kal zu individualisieren und zu entkantianisieren: Statt über allgemeine Pflich-
ten zu sprechen, wie sie bei Kant ausnahmlos für alle Vernunftwesen gelten,
wird vor einer Pflichtverallgemeinerung gewarnt: Die Pflicht des Vornehmen
unterscheide sich fundamental von der Pflicht des Unvornehmen. Und doch
bleibt auch und gerade der Vornehme pflichtgebunden; er macht von seinen
„Vorrechten“ anscheinend keinen anarchischen Gebrauch. Vgl. Grau 1984, 243
u. Poljakova 2013, 170.

273.
Die Eingangssequenz von JGB 273 hat N. auch in NL 1885, KSA 11, 42[3], 695,
4 („Ein Mensch der nach Großem strebt“) in einer Auflistung für das Buch zu
nutzender Texte notiert. Die damit gemeinte Vorarbeit lautet in NL 1885, KSA
11, 37[18], 594, 1-8 (vgl. KGW IX 4, W I 6, 77, 24-36): „Ein Mensch, der nach
Großem strebt, betrachtet Jedermann, dem er auf seiner Bahn begegnet, entwe-
 
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