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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0798
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778 Jenseits von Gut und Böse

die Wendung in der Druckfassung noch einmal stärker akzentuieren. Die Meta-
pher wird weniger bestimmt von der Vorstellung einer ausbrechenden Krank-
heit oder Seuche als vielmehr, wie aus N.s Brief vom 23. 07.1884 an Franz Over-
beck hervorgeht, vom Bild eines ausbrechenden Vulkans, wenn N. über sein
bisheriges Leben schreibt: „Die Consequenzen eines solchen Lebens kamen in
den letzten Jahren zum ,Ausbruch4 — eruptiv, in jeder Hinsicht, und beinahe
zerstörend.“ (KSB 6/KGB III/l, Nr. 521, S. 514, Z. 19-21) Zu N.s vulkanologischen
Kenntnissen vgl. NK 88, 18-20.
227, 25-228, 6 in allen Winkeln der Erde sitzen Wartende, die es kaum wissen,
in wiefern sie warten, noch weniger aber, dass sie umsonst warten. Mitunter auch
kommt der Weckruf zu spät, jener Zufall, der die „Erlaubniss“ zum Handeln
giebt, — dann, wenn bereits die beste Jugend und Kraft zum Handeln durch Still-
sitzen verbraucht ist; und wie Mancher fand, eben als er „aufsprang“, mit Schre-
cken seine Glieder eingeschlafen und seinen Geist schon zu schwer! „Es ist zu
spät“ — sagte er sich, ungläubig über sich geworden und nunmehr für immer
unnütz.] Das hier ausgebeutete Metaphernfeld vom Warten und vom Weckruf
ist biblisch geprägt, reicht zurück bis zu Jesaia 52, 8 u. 26,19 sowie insbesonde-
re zum Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen in Matthäus 25,
1-13 und hat innerhalb der protestantischen Frömmigkeit seinen klassischen
Ausdruck im berühmten Kirchenlied „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ (1599)
von Philipp Nicolai gefunden. Die Vorarbeit KGW IX 2, N VII 2, 66, 16 verdeut-
licht den biblischen Bezug noch durch die Evokation eines ,,Prophet[en] ohne
Herolde“ (vgl. Daniel 3, 4). Das „Genie“ (228, 7 u. 228,10) unterliegt einer säku-
larisierten Naherwartung, die oft genug unerfüllt bleibt: In JGB 274 entfällt der
Gott, der den Wartenden im rechten Augenblick - vgl. NK 228, 10-12 - beruft
und zur Realisierung seiner Möglichkeiten nötigt.
228, 6-9 Sollte, im Reiche des Genie’s, der „Raffael ohne Hände“, das Wort im
weitesten Sinn verstanden, vielleicht nicht die Ausnahme, sondern die Regel
sein?] „Raffael ohne Hände“ lautet eine Notiz in NL 1885, KSA 12, 1[172], 48,17,
entspricht KGW IX 2, N VII 2, 85, 2. Das in der Romantik gerne variierte Motiv
stammt aus Gotthold Ephraim Lessings Trauerspiel Emilia Galotti, wo der Maler
Conti sagt (1. Aufzug, 4. Auftritt): „Ha! daß wir nicht unmittelbar mit den Au-
gen malen! Auf dem langen Wege, aus dem Auge durch den Arm in den Pinsel,
wieviel geht da verloren! - Aber, wie ich sage, daß ich es weiß, was hier verlo-
ren gegangen und wie es verloren gegangen, und warum es verloren gehen
müssen: darauf bin ich eben so stolz und stolzer, als ich auf alles das bin, was
ich nicht verloren gehen lassen. Denn aus jenem erkenne ich, mehr als aus
diesem, daß ich wirklich ein großer Maler bin, daß es aber meine Hand nur
nicht immer ist. - Oder meinen Sie, Prinz, daß Raffael nicht das größte maleri-
 
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