Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0806
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
786 Jenseits von Gut und Böse

„Sie [sc. die Argonauten] fuhren nun weiter und kamen zur Thrazischen Stadt
Salmydessus, wo der blinde Seher Phineus sich aufhielt. [...] Die Götter hatten
ihm auch die Harpyien über den Hals geschickt, gefiederte Wesen, die, wenn
dem Phineus der Tisch gedeckt war, vom Himmel herabflogen, das Meiste weg-
raubten, und die wenigen übrigen Brocken mit solchem Gestank /64/ angefüllt
zurückließen, daß sie zum Essen durchaus untauglich waren. / Die Argonauten
hätten gerne von ihm das Nähere über ihre Fahrt erfahren. Er versprach auch,
ihnen die nöthige Belehrung zu geben, wenn sie ihn von den Harpyien befreie-
ten. Jene setzten ihm nun einen mit Speisen besetzten Tisch vor, und sogleich
flogen auch die Harpyien mit Geschrei herab und raubten die Speisen. Als das
die Söhne des Boreas, Zetes und Calais, sahen, die selbst beflügelt waren, rißen
sie ihre Schwerter heraus und verfolgten sie durch die Luft. Nach dem Spruche
des Schicksals war den Harpyien bestimmt, durch die Söhne des Boreas umzu-
kommen“ (Apollodoros 1828,1, 63 f. - Apollodor: Bibliothek I 9, 21). Die Apollo-
dor-Passage über die Harpyien - die bei N. ansonsten nur noch in einem titel-
listenartigen Notat vorkommen (KGW IX 4, W I 6, 78, 2: „Wie man über die
Selbst=Zerstörung hinwegkommt. Die Harpyien“) - erhellt also nicht nur, wa-
rum dem im Kurzdialog Angesprochenen der Appetit vergangen ist (eben, weil
die Harpyien die Speisen entweder geraubt oder verdorben haben), sondern
auch, warum er in 230, 21 f. plötzlich zu toben beginnt: Der wütende Ausbruch
der Argonauten gegen die Harpyien war durchaus erfolgreich. Demgegenüber
droht der Dyspeptiker (vgl. NK 231, 3) aus JGB 282 Hungers zu sterben.
231, 3 dyspepsia] Dyspepsie oder Verdauungsstörung ist ein Vorwurf, der bei
N. gerne metaphorisch gegen diejenigen erhoben wird, deren Umgang mit der
Wirklichkeit gestört ist, gegen decadents aller Art (vgl. NK 186, 11 f. u. NK KSA
6, 302, 32). 231, 3 ist einzige Stelle, an der N. statt der Eindeutschung „Dyspep-
sie“ das griechische Originalwort „dyspepsia“ (öuanEipia) gebrauchte. So ver-
fuhr auch Emerson in seinen von N. intensiv studierten Versuchen an einer
Stelle, die nach Vivarelli 1987, 253 f. u. Zavatta 2010, 264 eine Passage in Za III
Von alten und neuen Tafeln 16, KSA 4, 258 präludiert. Dort heißt es: „Die feinen
jungen Leute verachten das Leben, aber in mir, und in allen denen, die mit
mir von Dyspepsia*) frei sind, und denen ein Tag ein gesundes und solides
Gut ist, findet sich ein zu großes Übermaß von allgemeiner Höflichkeit, um
verächtlich aussehen zu können, und nach Gesellschaft zu schreien. Ich bin
durch die Sympathie etwas eifrig und sentimental geworden, aber laßt mich
allein, und ich würde jede Stunde und was sie mir brächte, zu geniessen wis-
sen, das Kannenglück des Tages ebenso sehr als das verbrauchteste Gewäsch
in der Schenkstube.“ (Emerson 1858, 316). Die Anmerkung zu Dyspepsia:
„*) ÖUOTiEijjia, Unverdaulichkeit“ (ebd.).
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften