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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0825
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Stellenkommentar JGB 295, KSA 5, S. 236-238 805

dessen Meisterschaft es gehört, dass er zu scheinen versteht — und nicht Das,
was er ist, sondern was Denen, die ihm folgen, ein Zwang mehr ist, um sich
immer näher an ihn zu drängen, um ihm immer innerlicher und gründlicher zu
folgen: - das Genie des Herzens, das alles Laute und Selbstgefällige verstummen
macht und horchen lehrt, das die rauhen Seelen glättet und ihnen ein neues Ver-
langen zu kosten giebt, — still zu liegen wie ein Spiegel, dass sich der tiefe Him-
mel auf ihnen spiegele -; das Genie des Herzens, das die tölpische und überra-
sche Hand zögern und zierlichergreifen lehrt; das den verborgenen und vergesse-
nen Schatz, den Tropfen Güte und süsser Geistigkeit unter trübem dickem Eise
erräth und eine Wünscheiruthe für jedes Korn Goldes ist, welches lange im Kerker
vielen Schlamms und Sandes begraben lag; das Genie des Herzens, von dessen
Berührung Jeder reicher fortgeht, nicht begnadet und überrascht, nicht wie von
fremdem Gute beglückt und bedrückt, sondern reicher an sich selber, sich neuer
als zuvor, aufgebrochen, von einem Thauwinde angeweht und ausgehorcht, unsi-
cherer vielleicht, zärtlicher zerbrechlicher zerbrochener, aber voll Hoffnungen,
die noch keinen Namen haben, voll neuen Willens und Strömens, voll neuen Un-
willens und Zurückströmens “] N. zitierte diesen Passus mit geringfügigen
Abweichungen in EH Warum ich so gute Bücher schreibe 6 als „curioses Stück
Psychologie“, vgl. NK KSA 6, 307, 18-308, 12. Die Formel „Genie des Herzens“
ist im späten 18. Jahrhundert nachzuweisen; N. konnte sie etwa bei Schröer
1875, 287 f. finden, vgl. die Belege in NK KSA 6, 307, 18 f.
237, 32 f. einem Jeden ergeht, der von Kindesbeinen an immer unterwegs und in
der Fremde war] Vgl. die bis in die Wortwahl ähnliche autoreferentielle Bemer-
kung in N.s Brief an seine Schwester vom 20. 05.1885, KSB 7/KGBIII/3, Nr. 602,
S. 52, Z. 17 f.
238, 3-7 jener grosse Zweideutige und Versucher Gott, dem ich einstmals, wie
ihr wisst, in aller Heimlichkeit und Ehrfurcht meine Erstlinge dargebracht habe —
als der Letzte, wie mir scheint, der ihm ein 0pfe r dargebracht hat: denn ich
fand Keinen, der es verstanden hätte, was ich damals that] Eine erste, von N.
mehrfach korrigierte Fassung lautete ursprünglich: „jener große Zweideutige,
u Versucher,-Gott, dem ich einstmals, wie ihr wißt, in aller Thorheit u. Ehr-
furcht meine Erstlinge dargebracht habe: - es war ein rein ächtes-1 rechtes
Rauch- u Brandopfer, und noch mehr Rauch als Brand!“ (KGW IX 4, W I 5, 13,
18-24, vgl. KGW IX 4, W I 5, 13, 8-12 mit einer weiteren Version, die JGB 295
schon genauer entspricht). Zu den fraglichen „Erstlingen“ dieser auto(r)fiktio-
nalen Retrospektive zählt insbesondere die Geburt der Tragödie. In der ur-
sprünglichen Manuskriptfassung sind die N. seit der Publikation von GT ge-
kommenen (und dann in GT Versuch einer Selbstkritik scharf artikulierten)
Vorbehalte gegenüber dieser Schrift mit der ironischen Volte „mehr Rauch als
 
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