Festvortrag von Josef Isensee
geten haben sie immer wieder neu entdeckt und ihrer eigenen Zeit vermittelt. In
der Mitte des 19. Jahrhunderts schuf Savigny sein System des heutigen Römischen
Rechts.
Der demokratische Gesetzesstaat erspart den Exegeten viel Arbeit, indem er
Gesetze ändert und neuen Bedürfnissen anpasst. Doch sein Tun bleibt Stückwerk.
Was er ändert, ist immer weniger als das, was er belassen muss, sodass der Exegese
immer noch die Aufgabe zufällt, den Hiatus zwischen dem überkommenen Recht
und der heutigen Realität auszugleichen. Je weniger ein alter Gesetzestext förm-
lich angepasst wird, desto größer ist das Erfordernis einer innovativen, elastischen
Exegese, die ihm weitere Lebensfähigkeit verschafft.
Diese Aufgabe erhebt sich nicht zuletzt für das Verfassungsgesetz, das auf
Dauer angelegt ist und dessen förmliche Revision auf hohe politische wie recht-
liche Hindernisse stößt. Die Verfassung der USA steht seit 1787 bis heute in ih-
rem ursprünglichen Wortlaut in Geltung. Der Urtext wurde in den mehr als zwei
Jahrhunderten lediglich um 27 Zusatzartikel ergänzt. Die Interpreten, zumal der
Supreme Court, haben unter Schonung des Textes den Inhalt der Verfassung den
Zeitläufen angepasst und ihr so kontinuierliche Wirksamkeit ermöglicht, freilich
im immeiwährenden Konflikt zwischen dem „original intent" und der „living Con-
stitution".
Das Grundgesetz, das in den 74 Jahren seiner Geltung 67 Änderungsgesetze
erfahren hat, versucht, seine substantielle Identität für die Zukunft abzusichern,
indem es dem parlamentarischen Gesetzgeber verbietet, im Verfahren der förm-
lichen Revision des Verfassungstextes die fundamentalen Grundsätze, die den
Verfassungskern bilden, auch nur zu berühren (Art. 79 Abs. 3 GG). Im gängigen
Verständnis erteilt hier das Grundgesetz sich selbst eine „Ewigkeitsgarantie", um
dem Wandel der Zeit zu trotzen. Die Sorge kommt auf, dass die Verfassung auf
Dauer versteinern werde und dass sich die Herrschaft der Toten über die Leben-
den etablieren könne, weil den Lebenden die Macht genommen werde, die Verfas-
sung den wechselnden Bedürfnissen auf demokratischem Wege anzupassen.37 Das
Berührungsverbot richtet sich an den verfassungsändernden Gesetzgeber. Ihm
wird verwehrt, durch eine „legale Revolution" das Grundgesetz im Kern zu ändern
oder völlig zu beseitigen. Hier wirkt das deutsche Trauma der „legalen Revolution"
von 1933 nach, welche die regulären Möglichkeiten, die ihr die Weimarer Verfas-
sung bot, nutzte, um sie zu vernichten. Doch die illegale, die offene Revolution
wird durch ein Revisionsverbot nicht verhindert, unter Umständen vielleicht so-
gar legitimiert. Verhindert wird auch nicht die hermeneutische Evolution - die
Rechtsänderung durch geplanten oder ungeplanten Sprachgebrauch38 -, die, ohne
den Wortlaut der Verfassung anzutasten, den inhaltlichen Verfassungswandel still-
37 Horst Dreier, Gilt das Grundgesetz ewig?, 2009, S. 28 ff.
38 Vgl. Fn. 17.
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geten haben sie immer wieder neu entdeckt und ihrer eigenen Zeit vermittelt. In
der Mitte des 19. Jahrhunderts schuf Savigny sein System des heutigen Römischen
Rechts.
Der demokratische Gesetzesstaat erspart den Exegeten viel Arbeit, indem er
Gesetze ändert und neuen Bedürfnissen anpasst. Doch sein Tun bleibt Stückwerk.
Was er ändert, ist immer weniger als das, was er belassen muss, sodass der Exegese
immer noch die Aufgabe zufällt, den Hiatus zwischen dem überkommenen Recht
und der heutigen Realität auszugleichen. Je weniger ein alter Gesetzestext förm-
lich angepasst wird, desto größer ist das Erfordernis einer innovativen, elastischen
Exegese, die ihm weitere Lebensfähigkeit verschafft.
Diese Aufgabe erhebt sich nicht zuletzt für das Verfassungsgesetz, das auf
Dauer angelegt ist und dessen förmliche Revision auf hohe politische wie recht-
liche Hindernisse stößt. Die Verfassung der USA steht seit 1787 bis heute in ih-
rem ursprünglichen Wortlaut in Geltung. Der Urtext wurde in den mehr als zwei
Jahrhunderten lediglich um 27 Zusatzartikel ergänzt. Die Interpreten, zumal der
Supreme Court, haben unter Schonung des Textes den Inhalt der Verfassung den
Zeitläufen angepasst und ihr so kontinuierliche Wirksamkeit ermöglicht, freilich
im immeiwährenden Konflikt zwischen dem „original intent" und der „living Con-
stitution".
Das Grundgesetz, das in den 74 Jahren seiner Geltung 67 Änderungsgesetze
erfahren hat, versucht, seine substantielle Identität für die Zukunft abzusichern,
indem es dem parlamentarischen Gesetzgeber verbietet, im Verfahren der förm-
lichen Revision des Verfassungstextes die fundamentalen Grundsätze, die den
Verfassungskern bilden, auch nur zu berühren (Art. 79 Abs. 3 GG). Im gängigen
Verständnis erteilt hier das Grundgesetz sich selbst eine „Ewigkeitsgarantie", um
dem Wandel der Zeit zu trotzen. Die Sorge kommt auf, dass die Verfassung auf
Dauer versteinern werde und dass sich die Herrschaft der Toten über die Leben-
den etablieren könne, weil den Lebenden die Macht genommen werde, die Verfas-
sung den wechselnden Bedürfnissen auf demokratischem Wege anzupassen.37 Das
Berührungsverbot richtet sich an den verfassungsändernden Gesetzgeber. Ihm
wird verwehrt, durch eine „legale Revolution" das Grundgesetz im Kern zu ändern
oder völlig zu beseitigen. Hier wirkt das deutsche Trauma der „legalen Revolution"
von 1933 nach, welche die regulären Möglichkeiten, die ihr die Weimarer Verfas-
sung bot, nutzte, um sie zu vernichten. Doch die illegale, die offene Revolution
wird durch ein Revisionsverbot nicht verhindert, unter Umständen vielleicht so-
gar legitimiert. Verhindert wird auch nicht die hermeneutische Evolution - die
Rechtsänderung durch geplanten oder ungeplanten Sprachgebrauch38 -, die, ohne
den Wortlaut der Verfassung anzutasten, den inhaltlichen Verfassungswandel still-
37 Horst Dreier, Gilt das Grundgesetz ewig?, 2009, S. 28 ff.
38 Vgl. Fn. 17.
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