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Kreative Impulse. Innovations- und Transferleistungen religiöser Gemeinschaften im mittelalterlichen Europa <Veranstaltung, 2019, Heidelberg>; Burkhardt, Julia [Hrsg.]
Kreative Impulse und Innovationsleistungen religiöser Gemeinschaften im mittelalterlichen Europa — Klöster als Innovationslabore, Band 9: Regensburg: Schnell + Steiner, 2021

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https://doi.org/10.11588/diglit.72131#0032
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Innovationsleistungen religiöser Gemeinschaften im Mittelalter 1 31

seine Zeitgenossen sehr radikal und teilweise auch bereits überholt.69 Vor allem
mit seiner Position zur Gültigkeit der Schismatikersakramente hinkte Gerhoch
den Entwicklungen seiner Zeit etwas hinterher, allerdings griff er mit seiner
Forderung nach der Imitation der apostolischen Lebensweise und Befolgung
der apostolischen Regel durch jeden Getauften eine Reformbewegung auf, die
gerade erst im Entstehen begriffen war.70 Sicherlich inspiriert durch Rupert von
Deutz (ca. 1075-1130) und Hugo von St. Viktor (ca. 1096-1141) sah Gerhoch nur
über die vita apostolica, die unweigerlich mit gemeinschaftlicher Lebensweise
und persönlicher Armut verbunden ist, den Zugang zum ewigen Leben in der
Einheit mit Christus und der Kirche gewährleistet.71
Zukunftsweisend war vor allem die Art und Weise, wie Gerhoch seine grund-
legenden Reformforderungen zu untermauern versuchte. In neuartiger, ,wissen-
schaftlicher' Manier belegte er seine Thesen am Rand des Haupttextes in einem
mehr oder weniger konsequent ausgeführten Verweissystem durch autoritativ
abgesicherte Zitate aus Papstdekreten und Konzilsbeschlüssen.72 Die innovative
Leistung, die Gerhoch bei der Zusammenstellung seiner Randglossen zuge-
schrieben werden kann, liegt darin begründet, dass er dabei wesentlich auf zeit-
genössische kanonistische Rechtssammlungen zurückgriff. Die von Gerhoch
benutzten Kanonessammlungen - hier zu nennen sind vor allem diejenige Ivos
von Chartres (ca. 1040-1115/16), Anselms von Lucca (ca. 1035-1086), des römi-
schen Kardinals Deusdedit (f 1098/99) und Placidus' von Nonantola - entstan-
den fast alle im Zuge des ,Investiturstreits', der Auseinandersetzung zwischen
regnum und sacerdotium, und trugen zu einer ersten thematischen Systematisie-
rung der überlieferten kanonistischen Quellen bei.73 Diese Entwicklung wurde

69 Vgl. Peter Classen, Gerhoch von Reichersberg und die Reformkanoniker in Bayern und
Österreich, in: Ausgewählte Aufsätze von Peter Classen, hg. von Dems./Josef Fleckenstein
(Vorträge und Forschungen, Bd. 28), Sigmaringen 1983, S. 431-460, hier S. 440.

70 „In seinem Liber de aedificio Dei öffnet er [Gerhoch] den Laien, die in der Welt bleiben wol-
len, den Weg zu einer Lebensform, die der vita apostolica, dem Innovationsbegriff des
12. Jahrhunderts schlechthin, vergleichbar ist." Ernst-Dieter Hehl, Innovatio/Renovatio.
Prozesse von Abstrahierung und Differenzierung im 12. Jahrhundert, in: Innovation in
Klöstern und Orden des Hohen Mittelalters. Aspekte und Pragmatik eines Begriffs, hg. von
Mirko BREITENSTEIN/Stefan BuRKHARDT/Julia Dücker (Vita regularis, Bd. 48), Berlin
2012, S. 21-38, hier S. 27-28.

71 Zur Auslegung der vita apostolica bei Rupert von Deutz und Hugo von St. Viktor vgl. Duane
V. Lapsanski, Perfectio evangelica. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung im frühfran-
ziskanischen Schrifttum (Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes zur Erforschung der
Mittelalterlichen Theologie und Philosophie, N.F. Bd. 22), München 1974, S. 5-8.

72 Vgl. Gerhoch von Reichersberg, Opusculum de aedificio Dei, hg. von Becker (wie Anm. 68),
Teilband 1, S. 55-61.

73 Vgl. Horst Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung der pseudoisidorischen Fälschungen. Von
ihrem Auftauchen bis in die neuere Zeit, 3 Bde. (MGH, Schriften, Bd. 24, 1-3), Stuttgart
 
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