Franziskus als Stifter franziskanischer Identität im 13. und 14. Jahrhundert 1 109
Franziskus war präsent in der Liturgie, in Predigten, die ihn auch als Engel
des sechsten Siegels identifizierten,128 in zahlreichen bildlichen Darstellungen,
die Szenen aus den Legenden zeigten oder dem Betrachter den Heiligen mit den
Stigmata vor Augen führten, als Heiliger, dem Kirchen und Kapellen gewidmet
waren, so dass er im Orden als Integrationsfigur fungierte. Es steht jedoch nicht
die Präsenz des Heiligen in der Liturgie, in Texten, Bilden und Skulpturen zur
Debatte, sondern die mit ihm verbundene Assoziation. Mit zunehmender zeitli-
cher Distanz und mit dem Eintritt neuer Brüder auch in entfernten Ordens-
provinzen musste das Bild des Menschen Francesco Bernardone zwangsläufig
verblassen.129 Die Komplexität seiner Persönlichkeit, die auch des inneren Wi-
derspruchs nicht entbehrte, blieb allerdings unvergessen und in ihr ist auch der
Ursprung der späteren Schwierigkeiten der auf ihn zurückgehenden Institution
zu suchen. Die bereits Gregor IX. von Ordensoberen vorgelegte Bitte, sich zu
Regel und Testament verbindlich zu äußern, und die Regelkommentare franzis-
kanischer Gelehrter seit den 1240er Jahren zeigen, dass seine Autorität bei man-
chen Brüdern bereits schwand. Bei anderen war das Bild des Franziskus noch
lebendig und in diesen Kreisen entstand der Widerstand gegen die institutionelle
Entwicklung der Gemeinschaft. Über Jahrzehnte wurde versucht, die Wider-
sprüche durch historische Materialsammlungen und sorgfältige Analyse zu lö-
sen. Dabei wurde Erinnerung auch bewusst geformt. Eine systematische Samm-
lung seiner Autographen oder Schriften fand nicht statt. Gegensätze im Orden
sollten durch eine autoritative Legendenbildung ausgeglichen werden und es
128 Sermones de S. Francisco, de S. Antonio et de S. Clara: appendix: Sermo de potestate papae
(Matthaei ab Aquasparta), hg. von Gideon Gal (Bibliotheca Franciscana ascetica Medii
Aevi 10), Quaracchi 1962, S. 1; Nicole Beriou, Saint Francois, premier prophete de son
Ordre, dans sermons du XIIIe siecle, in: Melanges de l'Ecole Frangaise de Rome 102 (1990),
S. 535-556; Jacques Bougerol, Saint Francois dans les premiers sermons universitaires, in:
Francesco d'Assisi nella storia (wie Anm. 55), Bd. 1, S. 173-199, hier S. 181-185; Zelina ZA-
farana, La predicazione francescana, in: Da Gregorio VII a Bernardino da Siena. Saggi di
storia medievale, hg. von Ovidio CAPITANI/Claudio LEONARDi/Enrico MENESTÖ/Roberto
Rusconi (Quaderni del Centro per il collegamento degli studi medievali e umanistici
nell'Universitä di Perugia 17), Florenz 1987, S. 141-186, hier S. 142; Jacques Dalarun, Fran-
cesco nei sermoni: agiografia e predicazione, in: La predicazione dei frati dalla meta del '200
all fine del '300. Atti del XXII Convegno internazionale Assisi, 13-15 ottobre 1994 (Atti dei
Convegni della Societa internazionale di studi francescani e del Centro interuniversitario di
studi francescani, N.S., 5), Spoleto 1995, S. 339-404, hier S. 343-347; Clement Schmitt, La
place de Francois dans la predication allemande des XIIIe-XVe siecles, in: Francesco d'Assisi
nella storia (wie Anm. 55), Bd. 1, S. 275-285, hier S. 277-281; Repertorium sermonum lati-
norum Medii Aevi ad laudem sancti Francisci Assisiensis, hg. von Aleksander Horowski
(Subsidia scientifica franciscalia 13), Rom 2013, verzeichnet 1049 Predigten.
129 Henk VAN Os, The Earliest Altarpieces of St. Francis, in: Francesco d'Assisi nella storia (wie
Anm. 55), Bd. 1, S. 333-338, hier S. 334, S. 338.
Franziskus war präsent in der Liturgie, in Predigten, die ihn auch als Engel
des sechsten Siegels identifizierten,128 in zahlreichen bildlichen Darstellungen,
die Szenen aus den Legenden zeigten oder dem Betrachter den Heiligen mit den
Stigmata vor Augen führten, als Heiliger, dem Kirchen und Kapellen gewidmet
waren, so dass er im Orden als Integrationsfigur fungierte. Es steht jedoch nicht
die Präsenz des Heiligen in der Liturgie, in Texten, Bilden und Skulpturen zur
Debatte, sondern die mit ihm verbundene Assoziation. Mit zunehmender zeitli-
cher Distanz und mit dem Eintritt neuer Brüder auch in entfernten Ordens-
provinzen musste das Bild des Menschen Francesco Bernardone zwangsläufig
verblassen.129 Die Komplexität seiner Persönlichkeit, die auch des inneren Wi-
derspruchs nicht entbehrte, blieb allerdings unvergessen und in ihr ist auch der
Ursprung der späteren Schwierigkeiten der auf ihn zurückgehenden Institution
zu suchen. Die bereits Gregor IX. von Ordensoberen vorgelegte Bitte, sich zu
Regel und Testament verbindlich zu äußern, und die Regelkommentare franzis-
kanischer Gelehrter seit den 1240er Jahren zeigen, dass seine Autorität bei man-
chen Brüdern bereits schwand. Bei anderen war das Bild des Franziskus noch
lebendig und in diesen Kreisen entstand der Widerstand gegen die institutionelle
Entwicklung der Gemeinschaft. Über Jahrzehnte wurde versucht, die Wider-
sprüche durch historische Materialsammlungen und sorgfältige Analyse zu lö-
sen. Dabei wurde Erinnerung auch bewusst geformt. Eine systematische Samm-
lung seiner Autographen oder Schriften fand nicht statt. Gegensätze im Orden
sollten durch eine autoritative Legendenbildung ausgeglichen werden und es
128 Sermones de S. Francisco, de S. Antonio et de S. Clara: appendix: Sermo de potestate papae
(Matthaei ab Aquasparta), hg. von Gideon Gal (Bibliotheca Franciscana ascetica Medii
Aevi 10), Quaracchi 1962, S. 1; Nicole Beriou, Saint Francois, premier prophete de son
Ordre, dans sermons du XIIIe siecle, in: Melanges de l'Ecole Frangaise de Rome 102 (1990),
S. 535-556; Jacques Bougerol, Saint Francois dans les premiers sermons universitaires, in:
Francesco d'Assisi nella storia (wie Anm. 55), Bd. 1, S. 173-199, hier S. 181-185; Zelina ZA-
farana, La predicazione francescana, in: Da Gregorio VII a Bernardino da Siena. Saggi di
storia medievale, hg. von Ovidio CAPITANI/Claudio LEONARDi/Enrico MENESTÖ/Roberto
Rusconi (Quaderni del Centro per il collegamento degli studi medievali e umanistici
nell'Universitä di Perugia 17), Florenz 1987, S. 141-186, hier S. 142; Jacques Dalarun, Fran-
cesco nei sermoni: agiografia e predicazione, in: La predicazione dei frati dalla meta del '200
all fine del '300. Atti del XXII Convegno internazionale Assisi, 13-15 ottobre 1994 (Atti dei
Convegni della Societa internazionale di studi francescani e del Centro interuniversitario di
studi francescani, N.S., 5), Spoleto 1995, S. 339-404, hier S. 343-347; Clement Schmitt, La
place de Francois dans la predication allemande des XIIIe-XVe siecles, in: Francesco d'Assisi
nella storia (wie Anm. 55), Bd. 1, S. 275-285, hier S. 277-281; Repertorium sermonum lati-
norum Medii Aevi ad laudem sancti Francisci Assisiensis, hg. von Aleksander Horowski
(Subsidia scientifica franciscalia 13), Rom 2013, verzeichnet 1049 Predigten.
129 Henk VAN Os, The Earliest Altarpieces of St. Francis, in: Francesco d'Assisi nella storia (wie
Anm. 55), Bd. 1, S. 333-338, hier S. 334, S. 338.