414 I Eva Schlotheuber
rahmen dar (1. Der Mantel des Antonius). Als zweiten Fragehorizont möchte
ich auf die Entwicklung und das Durchdringen des immateriellen bzw. spiritu-
ellen ,Zeit-Raums' als zentrale Aufgabe aller Religiösen eingehen. Der mittelal-
terlichen Vorstellung zufolge war der spirituelle Raum geprägt durch die gött-
liche Ordnung, die ihrerseits Genese, Sinn und Ziel der materiellen Welt - also
das gesamte „Sein" - umfasste. Die Religiösen, Mönche wie Nonnen, Welt-
geistliche und Semi-Religiöse, und in besonderer Weise die Eremiten waren für
die Erfassung und Durchdringung des spirituellen Raums prädestiniert. Durch
die Abschottung von der Welt oder freiwillige Begrenzung ihres faktischen Le-
bensraums durch die Klausur wiesen sie schon qua ihrer Lebensform dem im-
materiellen Raum den Vorrang zu. Durch den Abschluss der äußeren Welt
konnte und sollte sich eine innere öffnen. Die jahrhundertelange unablässige
Erforschung des spirituellen „Zeit-Raums" führte zu zahlreichen grundlegen-
den und bis heute bedeutsamen geistigen Entdeckungen (2. Grenzfragen: der
immaterielle Zeit-Raum als Aufgabe der Religiösen). Beim dritten Fragehori-
zont soll es darum gehen, ob eben diese Kenntnis oder Erkenntnis der Wirkzu-
sammenhänge jenseits der materiellen Welt die prinzipielle Verantwortung der
Religiösen für die Laiengesellschaft als Selbst- und Fremdzuschreibung her-
vorrief, die diese immer wieder zu theoretischen Gesellschaftsentwürfen, zu
praktischen Erfindungen oder zur konkreten Überschreitung bekannter Gren-
zen motivierte und autorisierte? (3. Geistliche Erkenntnis und irdische Wirk-
samkeit). Es wurde anfangs schon angedeutet, dass diese umfassenden Fragen
im Rahmen eines Essays nur grob umrissen und notwendigerweise ,schlicht'
betrachtet werden können.
1. Der Mantel des Antonius
Mit der monastischen Lebensweise entstand ein neuer konkurrierender Bil-
dungsbegriff, der durch die Vorstellung eines in gewisser Hinsicht vorausset-
zungslosen oder intuitiven Wissenszugangs geprägt war. Diese Form der Bildung
bedurfte idealiter keiner rationalen Schulung oder konkreter Wissensvermitt-
lung. So erheben, wie Peter Gemeinhardt es fasst, „christliche Mönche den Ver-
zicht auf literarische Bildung zum Programm".1 Für alle Gesellschaften mit
1 Peter Gemeinhardt, Bildung und Religion als interdisziplinäres Forschungsthema, in:
Theologische Literaturzeitung 142 (2017), S. 165-179, hier S. 171. Vgl. insgesamt den Sonder-
forschungsbereich 1136, Universität Göttingen, „Bildung und Religion in Kulturen des Mit-
telmeerraums und seiner Umwelt von der Antike bis zum Mittelalter und zum Klassischen
Islam" (2015-2020).
rahmen dar (1. Der Mantel des Antonius). Als zweiten Fragehorizont möchte
ich auf die Entwicklung und das Durchdringen des immateriellen bzw. spiritu-
ellen ,Zeit-Raums' als zentrale Aufgabe aller Religiösen eingehen. Der mittelal-
terlichen Vorstellung zufolge war der spirituelle Raum geprägt durch die gött-
liche Ordnung, die ihrerseits Genese, Sinn und Ziel der materiellen Welt - also
das gesamte „Sein" - umfasste. Die Religiösen, Mönche wie Nonnen, Welt-
geistliche und Semi-Religiöse, und in besonderer Weise die Eremiten waren für
die Erfassung und Durchdringung des spirituellen Raums prädestiniert. Durch
die Abschottung von der Welt oder freiwillige Begrenzung ihres faktischen Le-
bensraums durch die Klausur wiesen sie schon qua ihrer Lebensform dem im-
materiellen Raum den Vorrang zu. Durch den Abschluss der äußeren Welt
konnte und sollte sich eine innere öffnen. Die jahrhundertelange unablässige
Erforschung des spirituellen „Zeit-Raums" führte zu zahlreichen grundlegen-
den und bis heute bedeutsamen geistigen Entdeckungen (2. Grenzfragen: der
immaterielle Zeit-Raum als Aufgabe der Religiösen). Beim dritten Fragehori-
zont soll es darum gehen, ob eben diese Kenntnis oder Erkenntnis der Wirkzu-
sammenhänge jenseits der materiellen Welt die prinzipielle Verantwortung der
Religiösen für die Laiengesellschaft als Selbst- und Fremdzuschreibung her-
vorrief, die diese immer wieder zu theoretischen Gesellschaftsentwürfen, zu
praktischen Erfindungen oder zur konkreten Überschreitung bekannter Gren-
zen motivierte und autorisierte? (3. Geistliche Erkenntnis und irdische Wirk-
samkeit). Es wurde anfangs schon angedeutet, dass diese umfassenden Fragen
im Rahmen eines Essays nur grob umrissen und notwendigerweise ,schlicht'
betrachtet werden können.
1. Der Mantel des Antonius
Mit der monastischen Lebensweise entstand ein neuer konkurrierender Bil-
dungsbegriff, der durch die Vorstellung eines in gewisser Hinsicht vorausset-
zungslosen oder intuitiven Wissenszugangs geprägt war. Diese Form der Bildung
bedurfte idealiter keiner rationalen Schulung oder konkreter Wissensvermitt-
lung. So erheben, wie Peter Gemeinhardt es fasst, „christliche Mönche den Ver-
zicht auf literarische Bildung zum Programm".1 Für alle Gesellschaften mit
1 Peter Gemeinhardt, Bildung und Religion als interdisziplinäres Forschungsthema, in:
Theologische Literaturzeitung 142 (2017), S. 165-179, hier S. 171. Vgl. insgesamt den Sonder-
forschungsbereich 1136, Universität Göttingen, „Bildung und Religion in Kulturen des Mit-
telmeerraums und seiner Umwelt von der Antike bis zum Mittelalter und zum Klassischen
Islam" (2015-2020).