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Kreative Impulse. Innovations- und Transferleistungen religiöser Gemeinschaften im mittelalterlichen Europa <Veranstaltung, 2019, Heidelberg>; Burkhardt, Julia [Hrsg.]
Kreative Impulse und Innovationsleistungen religiöser Gemeinschaften im mittelalterlichen Europa — Klöster als Innovationslabore, Band 9: Regensburg: Schnell + Steiner, 2021

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https://doi.org/10.11588/diglit.72131#0416
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Überlegungen zu Wissenszugang und Selbstverständnis 1 415

großen Bildungsunterschieden zwischen gesellschaftlichen Gruppen, die Zugang
zu Bildungsinstitutionen hatten (litterati) und anderen, die ausgeschlossen blie-
ben (illitterati), war und ist der Zuschnitt des Bildungsbegriffs ein stets aktuelles
Thema, weil davon die prinzipiellen Partizipationsmöglichkeiten am gesell-
schaftlichen Diskurs abhängen.2 Für die Etablierung des neuen Bildungsbegriffs
in der Spätantike, der nicht in der intellektuellen Formung sondern in der Le-
bensform wurzelte, war die weitverbreitete Lebensbeschreibung des Antonius
eremita (251-356), die der griechische Kirchenvater und Bischof von Alexandrien
Athanasius (295-373) verfasste, von besonderer Bedeutung.
Antonius eremita, darüber ist sich die Forschung einig, hat eine neue Lebens-
form erschaffen.3 Der Sohn christlicher Eltern, der als Eremit oder Anachoret,
den Rand der bewohnten und bewohnbaren Welt aufsuchte und bewusst an die
Grenzen körperlicher und psychischer Möglichkeiten des Menschen ging, hat die
christliche Form der Weltverachtung und Einsamkeit als Grundvoraussetzung
für Selbst- und Gotteserkenntnis des Menschen gelegt. Das Leben der Heiligen
autorisierte und legitimierte in der spätantiken Welt neue Wertemuster und Le-
bensformen, für die es vorher keinen Platz in der Gesellschaft und am Anfang
nicht einmal einen Begriff gab. Ein Hinweis darauf ist nicht zuletzt, dass bei der
lateinischen Übersetzung der Vita Antonii des Evagrius von Antiocheia
ff 392/393) der wirkmächtigen Lebensbeschreibung des heiligen Antonius das
erste Mal die Begriffe monachus - „Mönch" und monasterium - „Kloster" ge-
prägt wurden, eben jene Begriffe, die im lateinischen Westen zu den Leitbegrif-
fen der neuen Lebensform wurden.4 Die Lebensbeschreibungen der Heiligen
waren vor allem im Früh- und Hochmittelalter der Ort des Diskurses, wo Zu-
schnitt und Inhalt der neuen Lebensform diskutiert und verbreitet wurden. „Die
ganze Menschheit wird an der Kette der imitatio auf der Himmelsleiter empor-
gerissen", so beschreibt der Romanist und Literaturtheoretiker Leo Spitzer um
1920 die besondere Wirkung der christlichen Heiligenbiographie als literarische

2 Zur schichtenspezifischen Bildungsproblematik im Mittelalter vgl. immer noch grundlegend
Herbert Grundmann, Litteratus - illitteratus. Der Wandel einer Bildungsnorm vom Alter-
tum zum Mittelalter, in: Ausgewählte Aufsätze, Teil 3: Bildung und Sprache, hg. von Herbert
Grundmann (MGH Schriften 25/3), Hannover 1978, S. 1-66.

3 Walter Berschin, Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter, Bd. 1: Von der
„Passio Perpetuae" zu den „Dialogi" Gregors des Grossen (Quellen und Untersuchungen
zur lateinischen Philologie des Mittelalters 8), Stuttgart 1986, S. 113-128.

4 Vie d'Antoine / Athanse d'Alexandrie. Introduction, texte critique, traduction, notes et in-
dex, hg. von Gerard J.M. Bartelink, Paris 1994; Berschin, Biographie (wie Anm. 3) S. 123-
128. Insgesamt zu dieser wegweisenden Übersetzung Pascal H.E. Bertrand, Die Evagrius-
übersetzung der Vita Antonii. Rezeption - Überlieferung - Edition. Unter besonderer
Berücksichtigung der Vitas Patrum-Tradition, Utrecht 2005.
 
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