430 I Eva Schlotheuber
hat und sein Tod naht. Bezeichnenderweise ist es in Eadmers Darstellung nicht
etwa Anselm selbst, der lebenslang Wissenssuchende, der erkennt, dass sein
Ende naht, wie es eigentlich jeder vernünftige Heilige vermag und wie es fester
Bestandteil jeder Heiligenbiographie ist. Im Gegenteil, seine Gefährten müssen
ihn darauf aufmerksam machen: ,„Herr und Vater', sagt einer seiner Begleiter,
,wir können nicht umhin zu erkennen (intellegi datur), dass Du die Welt verlas-
sen wirst, um am Osterfest am Hof Deines Herrn teilnehmen'" (pascbalem do-
mini tui curiam).51 Anselm gibt daraufhin die denkwürdige Antwort: „Ja, wenn
das sein Wille ist, werde ich gerne gehorchen. Allerdings würde ich es vorziehen,
bei Euch zu bleiben, bis ich eine Antwort auf die Frage (quaestio) nach dem Ur-
sprung der Seele gefunden habe, die ich beständig in meinen Gedanken wälze.
Ich glaube nämlich nicht, dass irgendjemand außer mir nach meinem Tod in der
Lage sein wird, sie zu beantworten. Ich würde mich ganz sicher erholen, wenn
ich nur essen könnte, nur der Magen ist ermüdet, sonst verspüre ich keine Schmer-
zen in meinem Körper."52 Gottes Reaktion auf Anselms Ansinnen freilich ist
eindeutig, er verliert seine Sprachfähigkeit. Alle, auch der englische König Hein-
rich I. (gest. 1135) und die Königin mit ihren Kindern, werden an sein Sterbebett
gerufen. Anselms Atem verlangsamt sich, er stirbt. Man vollzieht die letzte Ölung
und eben in dem Moment, als die Worte am Sterbebett gesprochen werden „dass
ihr an meinem Tisch in meinem himmlischen Königreich essen und trinken wer-
det" (ego dispono vobis sicut disposuit mihipater mens regnum, ut edatis et bibatis
super mensam meam in regno meo), haucht Anselm den letzten Atem aus.53
Diese denkwürdige Todesszene, die wie in den mittelalterlichen Heiligenvi-
ten üblich, wie in einem Prisma das ganze von seinem Ende her begriffene Leben
zusammenfasst,54 charakterisiert Anselm als eine Denkerpersönlichkeit, der bei
seiner unermüdlichen Gottessuche die Grenzen des menschenmöglichen Wis-
sens überschreiten will. Eadmer macht die darin liegende Hybris ganz deutlich,
wenn Anselm daran zweifelt, dass nach ihm noch irgendjemand dazu in Lage
wäre, den Ursprung der Seele zu enthüllen. Das Wissen um den Ursprung der
Seele freilich ist göttliches Offenbarungswissen, das sich der menschlichen ratio
51 Ebd., cap. 66, S. 141-142: Dixit itaque ei unus nostrum,Domine pater ut nobis intellegi datur,
adpaschalem Domini tui curiam relicto seculo vadis.
52 Ebd., cap. 66, S. 142: Respondit, et quidem si voluntas eius in hoc est, voluntati eius libens
parebo. Verum si mallet me adhuc inter vos saltem tarn diu manere, donec quaestionem quam
de origine animae mente revolvo absolvere possim, gratanter acciperem, eo quod nescio utrum
aliquis earn me defuncto sit soluturus. Ego quippe si comedere possem, spero convalescerem.
53 Ebd., cap. 66, S. 143.
54 Mors igitur vitae est testimonium, Ambrosius von Mailand, De bono mortis, in: Sancti Am-
brosii Opera,Bd. 1, hg. von Karl Schenke (CSEL 32/1), Prag/Wien/Leipzig 1897, c. 35,
S. 734.
hat und sein Tod naht. Bezeichnenderweise ist es in Eadmers Darstellung nicht
etwa Anselm selbst, der lebenslang Wissenssuchende, der erkennt, dass sein
Ende naht, wie es eigentlich jeder vernünftige Heilige vermag und wie es fester
Bestandteil jeder Heiligenbiographie ist. Im Gegenteil, seine Gefährten müssen
ihn darauf aufmerksam machen: ,„Herr und Vater', sagt einer seiner Begleiter,
,wir können nicht umhin zu erkennen (intellegi datur), dass Du die Welt verlas-
sen wirst, um am Osterfest am Hof Deines Herrn teilnehmen'" (pascbalem do-
mini tui curiam).51 Anselm gibt daraufhin die denkwürdige Antwort: „Ja, wenn
das sein Wille ist, werde ich gerne gehorchen. Allerdings würde ich es vorziehen,
bei Euch zu bleiben, bis ich eine Antwort auf die Frage (quaestio) nach dem Ur-
sprung der Seele gefunden habe, die ich beständig in meinen Gedanken wälze.
Ich glaube nämlich nicht, dass irgendjemand außer mir nach meinem Tod in der
Lage sein wird, sie zu beantworten. Ich würde mich ganz sicher erholen, wenn
ich nur essen könnte, nur der Magen ist ermüdet, sonst verspüre ich keine Schmer-
zen in meinem Körper."52 Gottes Reaktion auf Anselms Ansinnen freilich ist
eindeutig, er verliert seine Sprachfähigkeit. Alle, auch der englische König Hein-
rich I. (gest. 1135) und die Königin mit ihren Kindern, werden an sein Sterbebett
gerufen. Anselms Atem verlangsamt sich, er stirbt. Man vollzieht die letzte Ölung
und eben in dem Moment, als die Worte am Sterbebett gesprochen werden „dass
ihr an meinem Tisch in meinem himmlischen Königreich essen und trinken wer-
det" (ego dispono vobis sicut disposuit mihipater mens regnum, ut edatis et bibatis
super mensam meam in regno meo), haucht Anselm den letzten Atem aus.53
Diese denkwürdige Todesszene, die wie in den mittelalterlichen Heiligenvi-
ten üblich, wie in einem Prisma das ganze von seinem Ende her begriffene Leben
zusammenfasst,54 charakterisiert Anselm als eine Denkerpersönlichkeit, der bei
seiner unermüdlichen Gottessuche die Grenzen des menschenmöglichen Wis-
sens überschreiten will. Eadmer macht die darin liegende Hybris ganz deutlich,
wenn Anselm daran zweifelt, dass nach ihm noch irgendjemand dazu in Lage
wäre, den Ursprung der Seele zu enthüllen. Das Wissen um den Ursprung der
Seele freilich ist göttliches Offenbarungswissen, das sich der menschlichen ratio
51 Ebd., cap. 66, S. 141-142: Dixit itaque ei unus nostrum,Domine pater ut nobis intellegi datur,
adpaschalem Domini tui curiam relicto seculo vadis.
52 Ebd., cap. 66, S. 142: Respondit, et quidem si voluntas eius in hoc est, voluntati eius libens
parebo. Verum si mallet me adhuc inter vos saltem tarn diu manere, donec quaestionem quam
de origine animae mente revolvo absolvere possim, gratanter acciperem, eo quod nescio utrum
aliquis earn me defuncto sit soluturus. Ego quippe si comedere possem, spero convalescerem.
53 Ebd., cap. 66, S. 143.
54 Mors igitur vitae est testimonium, Ambrosius von Mailand, De bono mortis, in: Sancti Am-
brosii Opera,Bd. 1, hg. von Karl Schenke (CSEL 32/1), Prag/Wien/Leipzig 1897, c. 35,
S. 734.