Überlegungen zu Wissenszugang und Selbstverständnis 1 431
entzieht. An diesem Punkt ist der hochintelligente Anselm in all seinem Wis-
sensdurst blind, blinder als seine deutlich weniger begabte Umgebung. Er er-
kennt nicht die von Gott gesetzten Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit
und damit auch nicht den Zeitpunkt des eigenen Todes. Sein Körper will schon
länger die menschengemachte Nahrung nicht mehr aufnehmen, wobei hier si-
cherlich beides, sowohl die körperliche als auch die geistige Nahrung der Mön-
che gemeint ist. Als Antwort auf seine letzte und höchste Frage zeigt Gott in
Eadmers augenzwinkernder Erzählung Anselm geradezu liebevoll die Grenzen
auf und nimmt ihn zu Ostern am Höhepunkt des liturgischen Jahres zu sich. So
erfüllte sich die Prophezeiung seiner Jugend, dass er an Ostern am Tisch des
Herrn das panis nitissimus göttlicher Weisheit und Erlösung im Angesicht Got-
tes essen wird.
3. Geistliche Erkenntnis und irdische Wirksamkeit
Das sind natürlich nur einige wenige willkürliche Beispiele für die monastische
Erweiterung des Zeit- und Denkraums, die bis heute im kulturellen Gedächtnis
bewahrt wurden. Die Wirkmächtigkeit monastischer Ideen in Bezug auf die lai-
kale Gesellschaft des Mittelalters war abhängig von Zeit und Raum und selbst-
verständlich sehr unterschiedlich. Insgesamt dienten die Klöster, wie die For-
schung vielfach betont hat, als Erinnerungsort, als Orte des Totengedenkens
und der memoria der Familien, als Besitzzentren und Zentren der Herrschafts-
repräsentation. Sie übernahmen zudem die wichtige Aufgabe der Erziehung und
Ausbildung des monastischen und bisweilen auch des laikalen Nachwuchses.
Über diese konkreten Funktionen hinaus entwickelten sich die Klöster aber
auch eine Art ,Reflexionsraum', der die Möglichkeit bot, die verschiedenen,
durchaus konkurrierenden laikalen, religiösen oder auch semi-religiösen Rol-
lenmodelle von Männern und Frauen zu verhandeln, zu tradieren und anzupas-
sen. Die religiösen Gemeinschaften entwickelten sich deshalb stets im Wechsel-
spiel mit den religiösen und den sozialen Bedingungen und Bedürfnissen ihrer
Zeit. Umgekehrt wirkten ihre religiösen Lebensentwürfe auf die Gesellschaft
zurück, da die Nonnen und Mönche durch die besondere Lebensform eine Vor-
bildfunktion in der mittelalterlichen Gesellschaft ausübten. Die vielschichtigen
Beziehungen und Interdependenzen zwischen dem ,Sonderraum' Kloster und
der Laiengesellschaft erhellen deshalb in besonderer Weise Neuansätze oder
Wandel der mittelalterlichen Gesellschaft.55
55 Eva Schlotheuber, Hildegard von Bingen und die konkurrierenden spirituellen Lebens-
entwürfe der mulieres religiosae im 12. und 13. Jahrhundert, in: Unversehrt und unverletzt.
entzieht. An diesem Punkt ist der hochintelligente Anselm in all seinem Wis-
sensdurst blind, blinder als seine deutlich weniger begabte Umgebung. Er er-
kennt nicht die von Gott gesetzten Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit
und damit auch nicht den Zeitpunkt des eigenen Todes. Sein Körper will schon
länger die menschengemachte Nahrung nicht mehr aufnehmen, wobei hier si-
cherlich beides, sowohl die körperliche als auch die geistige Nahrung der Mön-
che gemeint ist. Als Antwort auf seine letzte und höchste Frage zeigt Gott in
Eadmers augenzwinkernder Erzählung Anselm geradezu liebevoll die Grenzen
auf und nimmt ihn zu Ostern am Höhepunkt des liturgischen Jahres zu sich. So
erfüllte sich die Prophezeiung seiner Jugend, dass er an Ostern am Tisch des
Herrn das panis nitissimus göttlicher Weisheit und Erlösung im Angesicht Got-
tes essen wird.
3. Geistliche Erkenntnis und irdische Wirksamkeit
Das sind natürlich nur einige wenige willkürliche Beispiele für die monastische
Erweiterung des Zeit- und Denkraums, die bis heute im kulturellen Gedächtnis
bewahrt wurden. Die Wirkmächtigkeit monastischer Ideen in Bezug auf die lai-
kale Gesellschaft des Mittelalters war abhängig von Zeit und Raum und selbst-
verständlich sehr unterschiedlich. Insgesamt dienten die Klöster, wie die For-
schung vielfach betont hat, als Erinnerungsort, als Orte des Totengedenkens
und der memoria der Familien, als Besitzzentren und Zentren der Herrschafts-
repräsentation. Sie übernahmen zudem die wichtige Aufgabe der Erziehung und
Ausbildung des monastischen und bisweilen auch des laikalen Nachwuchses.
Über diese konkreten Funktionen hinaus entwickelten sich die Klöster aber
auch eine Art ,Reflexionsraum', der die Möglichkeit bot, die verschiedenen,
durchaus konkurrierenden laikalen, religiösen oder auch semi-religiösen Rol-
lenmodelle von Männern und Frauen zu verhandeln, zu tradieren und anzupas-
sen. Die religiösen Gemeinschaften entwickelten sich deshalb stets im Wechsel-
spiel mit den religiösen und den sozialen Bedingungen und Bedürfnissen ihrer
Zeit. Umgekehrt wirkten ihre religiösen Lebensentwürfe auf die Gesellschaft
zurück, da die Nonnen und Mönche durch die besondere Lebensform eine Vor-
bildfunktion in der mittelalterlichen Gesellschaft ausübten. Die vielschichtigen
Beziehungen und Interdependenzen zwischen dem ,Sonderraum' Kloster und
der Laiengesellschaft erhellen deshalb in besonderer Weise Neuansätze oder
Wandel der mittelalterlichen Gesellschaft.55
55 Eva Schlotheuber, Hildegard von Bingen und die konkurrierenden spirituellen Lebens-
entwürfe der mulieres religiosae im 12. und 13. Jahrhundert, in: Unversehrt und unverletzt.