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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0032
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6 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

in der Weise der letzten Wochen fortgehe“ (KSB 4, Nr. 324, S. 173). Obwohl N.
dies am 20. November 1873 sogar für „wahrscheinlich“ hielt (KSB 4, Nr. 328,
S. 179), erfüllte sich diese Hoffnung letztlich nicht (Schaberg 2002, 57). Denn
von den 1000 gedruckten Exemplaren von UB I DS waren bis zum Oktober 1874
lediglich 517 Exemplare verkauft, so dass N.s neuer Verleger Ernst Schmeitzner
im Oktober 1874 noch 483 Restexemplare übernehmen konnte (vgl. ebd., 60,
70). Am 3. November 1874 schrieb N. seiner Schwester: Der „buchhändlerische
Erfolg“ der beiden ersten Unzeitgemässen Betrachtungen „war bis jetzt ein kläg-
licher: von der ersten sind c. 500, von der zweiten kaum 200 Exemplare ver-
kauft“ (KSB 4, Nr. 401, S. 273). Analog äußerte er sich zwölf Tage später auch
in einem Brief an Erwin Rohde, um dann mit einem resignativen Stoßseufzer
festzustellen: „Welche Zukunft!“ (KSB 4, Nr. 403, S. 275).
Ein wichtiges Motiv für N.s Auseinandersetzung mit David Friedrich
Strauß’ ANG geht aus einem „Vorwort“-Entwurf im Nachlass hervor: „Ein Buch,
das in Jahresfrist sechs starke Auflagen erlebt, kann deshalb immer noch ohne
jeden Werth sein [...]. Nur der Erfolg des Straussischen Bekenntnissbuches,
nicht das Buch selbst, trieb mich zu den nachfolgenden Betrachtungen. Es
musste mir allmählich unerträglich werden, unter allem was gegen Strauss ein-
gewendet wurde, nichts zu finden, was allgemein genug gedacht war, um er-
klären zu können, wie ein so unbedeutendes Buch zu einem so skandalösen
Erfolge komme“ (NL 1873, 27 [78], KSA 7, 610). - Evident wird hier bereits eines
der zentralen Motive, die den jungen N. dazu trieben, David Friedrich Strauß
mit einem Pamphlet zu attackieren: Er fühlte sich durch die phänomenale öf-
fentliche Resonanz des zeitgenössischen Erfolgsautors provoziert, der schon
Jahrzehnte zuvor durch sein Buch Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet (1835) als
Theologe und Schriftsteller geradezu berühmt geworden war und nun sogar
mit seiner Spätschrift Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntniß (1872) inner-
halb eines sehr begrenzten Zeitraums sechs Auflagen zu erzielen vermochte.
Durch seine Polemik gegen David Friedrich Strauß sah der noch unbe-
kannte N. für sich die willkommene Gelegenheit, ein Denkmal vom Sockel zu
stoßen und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit durch diesen Akt auf sich
selbst zu lenken. Allerdings war N. keineswegs der erste, der eine kritische
Auseinandersetzung mit Strauß’ Schrift Der alte und der neue Glaube vollzog.
Vielmehr schloss N. mit seiner Polemik an die kritische Resonanz auf Strauß’
Altersschrift an, mit der schon andere Zeitgenossen öffentlich hervorgetreten
waren. Diese Konstellation lässt UB I DS wie ein bloßes Nachhutgefecht zu
längst geschlagenen Schlachten erscheinen. Vgl. dazu die Dokumentation in
der Dissertation von Friedrich Wilhelm Graf über Kritik und Pseudo-Spekula-
tion. David Friedrich Strauß als Dogmatiker im Kontext der positionellen Theolo-
gie seiner Zeit (1982, 613-664).
 
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