Überblickskommentar, Kapitel 1.1: Motivation und Entstehung 13
Nr. 301, S. 140). Am selben Tag schreibt N. an Malwida von Meysenbug: „Prof.
Overbeck, der freieste Theolog, der jetzt nach meinem Wissen lebt und jeden-
falls einer der größten Kenner der Kirchengeschichte, arbeitet jetzt an dieser
Charakteristik und wird, nach allem, was ich weiß und worin wir einmüthig
sind, einige erschreckende Wahrheiten bekannt machen. Allmählich dürfte
Basel ein Bedenken erregender Ort werden“ (KSB 4, Nr. 302, S. 143). Analog
äußert sich N. am 18. April 1873 auch gegenüber Richard Wagner: Nachdem er
den „offensiven Character“ von Overbecks „unwiderlegbar[er]“ Schrift betont
hat, erklärt er: „Basel wird allmählich recht anstössig“ (KSA 4, Nr. 304, S. 145).
Und an Overbeck selbst richtet N. am 31. Dezember 1873 den aussagekräftigen
Appell: „Nicht wahr, wir wollen uns gut und treu bleiben, Wunsch-, Waffen-
und Wandnachbarn, seltsame Käuze meinetwegen im Baseler ,Uhlenhorst4,
aber recht friedfertige brave Uhlen. Nämlich für uns: nach aussen hin greuli-
ches Mord- und Raubgethier, brüllende Tiger und ähnlicher Wüstenkönige Ge-
nossen“ (KSB 4, Nr. 337, S. 186). Das Bedürfnis des jungen N., durch Angriffe
auf bestehende Traditionen und konventionelle Ansichten öffentliche Auf-
merksamkeit zu provozieren, kommt in den zitierten Briefen ebenso deutlich
zum Ausdruck wie sein intellektuelles Vergnügen an provokativer Selbstinsze-
nierung.
Als Signum der besonderen geistigen Affinität zwischen N. und Overbeck,
die zudem beide Schopenhauer verehrten, kann die sogenannte Zwillings-
schrift4 von 1873 gelten: N. und Overbeck entschlossen sich dazu, ihre unter
wechselseitiger Beeinflussung und intensiver Anteilnahme am gedanklichen
Entstehungsprozess der jeweils anderen Schrift entstandenen und dann sogar
im selben Jahr erschienenen Publikationen UBI DS und Ueber die Christlichkeit
unserer heutigen Theologie auch zu einem gemeinsamen Band zusammenzu-
binden, der auf diese Weise zu einem singulären Dokument ihrer Verbunden-
heit wurde (vgl. Katrin Meyer 1998, 82-90).
Der gedankliche Horizont beider Autoren und die Grundtendenzen der ge-
meinsamen Debatten unter den Freunden waren in der Entstehungsphase
durch eine entschiedene Zukunftsorientierung bestimmt. So teilt N. Erwin Roh-
de am 5. Mai 1873 in einem Brief mit: „Overbeck ist mit seiner Schrift (wir
nennen sie ,Zukunftstheologie4) fertig, auch der Verleger ist gefunden - und
wer? Fritzschius!“ (KSB 4, Nr. 307, S. 149). Der Begriff ,Zukunftstheologie4 ist
insofern als programmatisches Signal zu verstehen, als die Idee der ,Zukunft4
für N. und sein soziales Umfeld damals zentrale Bedeutung hatte. Wenn N.
der Thematik der „Zukunft“ später im Schlusskapitel 11 von UB IV WB eine
leitmotivische Funktion zuweist, dann schließt er damit auch an Zukunftsvisio-
nen in Wagners programmatischen Schriften Das Kunstwerk der Zukunft
(GSD III, 42-177) und „Zukunftsmusik“ an (vgl. NK 481, 12). Seinen Freundes-
Nr. 301, S. 140). Am selben Tag schreibt N. an Malwida von Meysenbug: „Prof.
Overbeck, der freieste Theolog, der jetzt nach meinem Wissen lebt und jeden-
falls einer der größten Kenner der Kirchengeschichte, arbeitet jetzt an dieser
Charakteristik und wird, nach allem, was ich weiß und worin wir einmüthig
sind, einige erschreckende Wahrheiten bekannt machen. Allmählich dürfte
Basel ein Bedenken erregender Ort werden“ (KSB 4, Nr. 302, S. 143). Analog
äußert sich N. am 18. April 1873 auch gegenüber Richard Wagner: Nachdem er
den „offensiven Character“ von Overbecks „unwiderlegbar[er]“ Schrift betont
hat, erklärt er: „Basel wird allmählich recht anstössig“ (KSA 4, Nr. 304, S. 145).
Und an Overbeck selbst richtet N. am 31. Dezember 1873 den aussagekräftigen
Appell: „Nicht wahr, wir wollen uns gut und treu bleiben, Wunsch-, Waffen-
und Wandnachbarn, seltsame Käuze meinetwegen im Baseler ,Uhlenhorst4,
aber recht friedfertige brave Uhlen. Nämlich für uns: nach aussen hin greuli-
ches Mord- und Raubgethier, brüllende Tiger und ähnlicher Wüstenkönige Ge-
nossen“ (KSB 4, Nr. 337, S. 186). Das Bedürfnis des jungen N., durch Angriffe
auf bestehende Traditionen und konventionelle Ansichten öffentliche Auf-
merksamkeit zu provozieren, kommt in den zitierten Briefen ebenso deutlich
zum Ausdruck wie sein intellektuelles Vergnügen an provokativer Selbstinsze-
nierung.
Als Signum der besonderen geistigen Affinität zwischen N. und Overbeck,
die zudem beide Schopenhauer verehrten, kann die sogenannte Zwillings-
schrift4 von 1873 gelten: N. und Overbeck entschlossen sich dazu, ihre unter
wechselseitiger Beeinflussung und intensiver Anteilnahme am gedanklichen
Entstehungsprozess der jeweils anderen Schrift entstandenen und dann sogar
im selben Jahr erschienenen Publikationen UBI DS und Ueber die Christlichkeit
unserer heutigen Theologie auch zu einem gemeinsamen Band zusammenzu-
binden, der auf diese Weise zu einem singulären Dokument ihrer Verbunden-
heit wurde (vgl. Katrin Meyer 1998, 82-90).
Der gedankliche Horizont beider Autoren und die Grundtendenzen der ge-
meinsamen Debatten unter den Freunden waren in der Entstehungsphase
durch eine entschiedene Zukunftsorientierung bestimmt. So teilt N. Erwin Roh-
de am 5. Mai 1873 in einem Brief mit: „Overbeck ist mit seiner Schrift (wir
nennen sie ,Zukunftstheologie4) fertig, auch der Verleger ist gefunden - und
wer? Fritzschius!“ (KSB 4, Nr. 307, S. 149). Der Begriff ,Zukunftstheologie4 ist
insofern als programmatisches Signal zu verstehen, als die Idee der ,Zukunft4
für N. und sein soziales Umfeld damals zentrale Bedeutung hatte. Wenn N.
der Thematik der „Zukunft“ später im Schlusskapitel 11 von UB IV WB eine
leitmotivische Funktion zuweist, dann schließt er damit auch an Zukunftsvisio-
nen in Wagners programmatischen Schriften Das Kunstwerk der Zukunft
(GSD III, 42-177) und „Zukunftsmusik“ an (vgl. NK 481, 12). Seinen Freundes-