Metadaten

Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,2): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0063
License: In Copyright

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Überblickskommentar, Kapitel 1.5: Rezeption 37

2013, 277). In einer anderen anonymen Rezension, die unter dem Titel Vom
„Bildungsphilister“ 1873 im „Musikalischen Wochenblatt“ erschien und sehr
ausführlich aus UBI DS zitiert, ist von der „wahre [n] Charakteristik gewisser
Zustände“ in der „geistvollen Schrift“ N.s die Rede, welche „die volle Aufmerk-
samkeit jedes Denkenden und namentlich jedes künstlerisch Empfindenden“
fordere (zitiert nach Hauke Reich 2013, 276). Hier ist allerdings mitzuberück-
sichtigen, dass es sich beim Rezensenten vermutlich um N.s Leipziger Verleger
Ernst Wilhelm Fritzsch selbst handelt (vgl. ebd., 276), der für seinen Autor zu
werben versuchte.
Das Ehepaar Wagner las N.s UB I DS mit Aufmerksamkeit und Interesse.
Am 8. August 1873 notierte Cosima Wagner in ihrem Tagebuch: „Die Broschü-
re von Professor] Nietzsche gegen Strauß ist angekommen, eifriges Lesen da-
rin“ (Cosima Wagner: Tagebücher, Bd. I, 1976, 713). Zwölf Tage später schrieb
sie allerdings: „abends in Nietzsche’s Broschüre für die Freundin [Malwida von
Meysenbug] gelesen, mit Betrübnis einen unerfreulichen Eindruck von vielem
darin erhalten“ (ebd., 717). Richard Wagner artikulierte seinen Eindruck am
21. September 1873 in einem Brief an N. folgendermaßen: „Was Sie betrifft, so
wiederhole ich Ihnen den Einfall, den ich kürzlich einmal gegen die Meinigen
äusserte; nämlich, dass ich die Zeit voraussehe, in welcher ich Ihr Buch gegen
Sie zu vertheidigen haben würde. - Ich habe wieder darin gelesen, und schwö-
re Ihnen zu Gott zu, dass ich Sie für den Einzigen halte, der weiss, was ich
will!“ (KGB II4, Nr. 458, S. 295). N. zitiert Wagners Reaktion auf UB I DS am
27. September 1873 in einem Brief an Carl von Gersdorff (KSB 4, Nr. 316, S. 161).
Gottfried Keller hingegen reagierte noch im Erscheinungsjahr von UB I DS
am 18. November 1873 in einem Brief an den Schriftsteller, Theater- und Litera-
turkritiker Emil Kuh äußerst kritisch auf N.s Schrift: „Das knäbische Pamphlet
des Herrn Nietzsche gegen Strauß habe ich auch zu lesen begonnen, bringe es
aber kaum zu Ende wegen des gar zu monotonen Schimpfstiles ohne alle posi-
tiven Leistungen oder Oasen. Nietzsche soll ein junger Professor von kaum
26 Jahren sein, Schüler von Ritschi in Leipzig und Philologe, den aber eine
gewisse Großmannssucht treibt, auf anderen Gebieten Aufmerksamkeit zu er-
regen. Sonst nicht unbegabt, sei er durch Wagner-Schoppenhauerei [sic] ver-
rannt und treibe in Basel mit ein paar Gleichverrannten einen eigenen Kultus.
Mit der Straußbroschüre will er ohne Zweifel sich mit einem Coup ins allgemei-
ne Gerede bringen, da ihm der stille Schulmeisterberuf zu langweilig und lang-
sam ist.“ Und dann erklärt Keller dezidiert: „Ich halte den Mann für einen Erz-
und Cardinalphilister; denn nur solche pflegen in der Jugend so mit den Hufen
auszuschlagen und sich für etwas anderes als für Philister zu halten, gerade
weil dieses Wähnen etwas so Gewöhnliches ist“ (Schmidt/ Streitfeld 1988, 77-
78).
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften