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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0105
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Stellenkommentar UB I DS 1, KSA 1, S. 161 79

Polemik N.s gegen die Tendenz, sich selbst zu einem Lessing des 19. Jahrhun-
derts zu stilisieren, die er in UB I DS bei David Friedrich Strauß diagnostiziert
und nachdrücklich beanstandet, weil er ihn für einen durch bloße „Gebildet-
heit“ charakterisierten Philister par excellence hält. Deshalb betrachtet N.
Strauß’ Wunsch als hybrid, als „der deutsche Voltaire“ oder als „der französi-
sche Lessing“ zu gelten (216, 14-15) oder sogar beide Aufklärer in Personal-
union zu verkörpern (vgl. 216, 16-19).
Im Spektrum von N.s Begrifflichkeit sind unterschiedliche Akzentsetzun-
gen festzustellen. Während er echte ,Bildung4 von bloßer ,Gebildetheit4 ab-
grenzt, erscheinen die Begriffe ,Bildung4 und ,Kultur4 in seinen frühen Schrif-
ten weitgehend als gleichwertig, allerdings mit der Differenz, dass er ,Kultur4
der gebildeten Gesellschaft zuordnet, mit,Bildung4 hingegen auf das kultivier-
te Individuum Bezug nimmt. Diese Terminologie ist kein Spezifikum N.s, son-
dern kennzeichnet die Mentalitätsgeschichte in Deutschland bereits seit dem
18. Jahrhundert. (Vgl. dazu Hoyer 2002, 286.) - Sowohl,Bildung4 als auch ,Kul-
tur4 sieht N. wesentlich durch eine von ihm positiv verstandene Homogenität
ausgezeichnet und dadurch im Gegensatz zur „chaotischen“ Melange „aller
Stile“ (163, 9), die er als charakteristisch für die „moderne Jahrmarkts-Bunt-
heit“ seiner eigenen Epoche betrachtet (163, 22-23). In diesem Sinne kontras-
tiert N. in UB I DS die „Barbarei“ mit der „Kultur“, die er hier als „Einheit des
künstlerischen Stiles in allen Lebensäusserungen eines Volkes“ definiert (163,
3-4). Durch die Explikation dieser zentralen These lässt N. zugleich das Defizi-
täre bloßer ,Gebildetheit4 evident werden: „Vieles Wissen und Gelernthaben ist
aber weder ein nothwendiges Mittel der Kultur, noch ein Zeichen derselben
und verträgt sich nöthigenfalls auf das beste mit dem Gegensätze der Kultur,
der Barbarei, das heisst: der Stillosigkeit oder dem chaotischen Durcheinander
aller Stile“ (163, 4-8).
Während N. in der Makrodimension der Gesellschaft die Polarität von ,Kul-
tur4 und ,Barbarei4 betont, akzentuiert er im Hinblick auf die Individuen die
Opposition zwischen den geistig ,Suchenden4 und den bloßen ,Philistern4: Den
Geistesheroen in früheren Phasen der Kulturgeschichte, die ernsthaft „Su-
chende waren“ (167, 15), stellt er nicht nur die Bildungsphilister mit ihrer
leeren Prätention gegenüber, sondern auch die unkreativ in passiver Resigna-
tion verharrenden „Epigonen“, deren Mentalität ebenfalls die kulturelle Ent-
wicklung behindert und geistige Erstarrung fördert. Vgl. dazu NK 165, 6 und
NK169, 16-18. In UB II HL hebt N. die Problematik der Epigonalität mehrfach
mit besonderem Nachdruck hervor.
Während N. mit dem „Gegensatz“ zwischen „Bildung“ und „Gebildetheit“
(161, 2-3) eine qualitative Differenz exponiert, betont er wenig später eine
quantitative Unterscheidung, indem er „von dem besonneneren und belehrte-
 
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