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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0116
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90 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

Die negativen Bedeutungsvalenzen des Philisterbegriffs bei Schopenhauer
nimmt N. sowohl in UB I DS als auch in UB III SE auf (vgl. NK 352, 27). In
UB I DS adaptiert er auch den Kontrastbegriff,Musensohn4 (165, 14) aus Scho-
penhauers Definition (PP I, Hü 364). - In den Aphorismen zur Lebensweisheit
charakterisiert Schopenhauer den ,Philister4 so: „Kein Drang nach Erkenntniß
und Einsicht, um ihrer selbst Willen, belebt sein Daseyn, auch keiner nach
eigentlich ästhetischen Genüssen [...]. Wirkliche Genüsse für ihn sind allein die
sinnlichen: durch diese hält er sich schadlos44 (PP I, Hü 365). Laut Schopenhau-
er „ist dem Philister ein dumpfer, trockener Ernst, der sich dem thierischen
nähert, eigen [...]“ (PPI, Hü365). Menschen von überlegener Intellektualität
erregen „seinen Widerwillen, ja, seinen Haß [...]; weil er dabei nur ein lästiges
Gefühl von Inferiorität, und dazu einen dumpfen, heimlichen Neid verspürt,
den er aufs Sorgfältigste versteckt, indem er ihn sogar sich selber zu verhehlen
sucht [...]. Ein großes Leiden aller Philister ist, daß Idealitäten ihnen keine
Unterhaltung gewähren, sondern sie, um der Langenweile zu entgehn, stets
der Realitäten bedürfen“ (PP I, Hü 366).
Die charakteristische Verbindung von geistiger Mediokrität mit Phlegma,
Missgunst und Ressentiment, durch die bereits Schopenhauer den Philister ge-
kennzeichnet sieht, weist auf N.s Definition des ,Bildungsphilisters4 voraus, in
der eine bornierte Selbstzufriedenheit allerdings stärker akzentuiert ist als in
den Ausführungen Schopenhauers. - Vgl. weitere Belege zum ,Philister4 bei
Schopenhauer (auch zur Opposition von Genie und Philister): WWVII, Kap. 31,
Hü 453; WWV II, Kap. 38, Hü 507; PP I, Hü 384; PP II, Kap. 1, § 21, Hü 20; PP II,
Kap. 23, § 283, Hü 567. Zum pejorativen Begriff ,Philisterei4 in Schopenhauers
Schrift Ueber die Universitäts-Philosophie vgl. auch NK 352, 27.
Die nachgelassenen Fragmente aus der Entstehungszeit von UB I DS lassen
erkennen, inwiefern die Vorstellung des ,Bildungsphilisters4 für N. als negative
Leitidee fungierte. Vgl. auch das folgende Notat aus dieser Zeitphase: „Entste-
hung des Philisters der Bildung. An sich die Bildung immer in sehr exclusiven
Kreisen. Der eig<entliche> Philister hielt sich davon fern. Der Gelehrte machte
einen Übergang, er glaubte an das klassische Alterthum, die Künstler galten
ihm als bedenkliche Gesellen. [...] Der Philister hat kein Gefühl von den Män-
geln der Kultur und von dem Experimentiren bei Schiller und Goethe. Er geht
von einem starken Chauvinismus aus. Das übereilige Aburtheilen Hegel’s und
seiner Schüler hat die Meinung hervorgebracht, wir seien auf der Höhe“
(NL 1873, TI [52], KSA 7, 602). Noch ohne das Kompositum ,Bildungsphilister4,
das hier aber in der Vorstellung „des Philisters der Bildung“ präsent ist (ebd.),
beschreibt N. bestimmte Ausprägungen eines naiven Kulturoptimismus als
philiströs, die sich mit einem Habitus der Selbstüberschätzung verbinden. - In
einem weiteren nachgelassenen Notat formuliert N. auch eine Hypothese zum
 
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