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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0128
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102 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

den Ruhm ihrer Vorgänger“, von denen sie sich zugleich „erdrückt fühlen“
(Prutz 1975, 248).
Mit der Ambivalenz der Epigonen-Situation setzt sich N. vor allem in sei-
nem kulturkritischen Frühwerk intensiv auseinander, so in den Unzeitgemäs-
sen Betrachtungen und in der Geburt der Tragödie (vgl. NK 1/1 zu KSA 1, 75,
25-32). Von besonderer Bedeutung ist UBII HL: Hier kommt dem Problem der
Epigonalität ein zentraler Stellenwert zu, der sich auch in der leitmotivischen
Verwendung des Epigonenbegriffs manifestiert. Zugleich reflektiert N. bereits
das Problem einer Lähmung kreativer Kräfte und einer kulturellen Stagnation,
die durch vorschnelle Resignation entstehen kann. Im Rahmen einer psycholo-
gisch akzentuierten Kulturdiagnose kritisiert N. in UB I DS diejenigen, die „den
Begriff des Epigonen-Zeitalters“ bloß strategisch einsetzen, „um Ruhe zu ha-
ben“ und alle für sie „unbequemen“ kulturellen Innovationen sofort mit dem
Etikett „Epigonenwerk“ stigmatisieren zu können (169,15-18). Dieses Verhalten
beanstandet N., weil er es durch Hass gegen „den dominirenden Genius und
die Tyrannis wirklicher Kulturforderungen“ (169, 30-31) bedingt und damit im
Gegensatz zu seinen eigenen kulturschöpferischen Intentionen sieht.
Auch in UB II HL konstatiert N. die Gefahr, die sich mit der Berufung auf
eine nur scheinbar unüberwindliche Krisensituation der Epigonen verbindet.
Mit Nachdruck warnt er hier vor eskapistischen Strategien seiner Zeitgenossen,
indem er sich entschieden gegen den „lähmende[n]“ Glauben wendet, „ein
Spätling der Zeiten zu sein“ (KSA 1, 308,11-12). Der „jederzeit schädliche Glau-
be an das Alter der Menschheit, der Glaube, Spätling und Epigone zu sein“
(KSA 1, 279, 11-13), verrät nach N.s Auffassung eine sterile Retrospektive, die
er durch einen „vorwärts“ gerichteten Blick ersetzen will: „Zieht um euch den
Zaun einer grossen und umfänglichen Hoffnung, eines hoffenden Strebens.
Formt in euch ein Bild, dem die Zukunft entsprechen soll, und vergesst den
Aberglauben, Epigonen zu sein“ (KSA 1, 295, 4-7). Vgl. auch NK 168, 18-22.
Zur großen Popularität epigonaler Autoren in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts trug das verbreitete Bedürfnis der Deutschen bei, für das neue natio-
nale Selbstbewusstsein auch eine kulturelle Legitimation zu finden. Trotz der
problematischen Folgen einer historisierenden Bildungskultur, die N. im Rah-
men seiner Kulturkritik in den Unzeitgemässen Betrachtungen konstatiert, deu-
tet er die Situation der modernen Epigonen in UB II HL sogar optimistisch und
stellt dabei eine Analogie zu kulturellen Konstellationen der Antike her (KSA 1,
333, 6-26): Seiner Überzeugung zufolge kann „selbst der oftmals peinlich an-
muthende Gedanke, Epigonen zu sein, gross gedacht, grosse Wirkungen und
ein hoffnungsreiches Begehren der Zukunft, sowohl dem Einzelnen als einem
Volke verbürgen“, und zwar insofern, als „wir uns nämlich als Erben und
Nachkommen klassischer und erstaunlicher Mächte begreifen und darin unse-
 
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