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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0190
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164 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

Freiheit [...] unwiederbringlich geschehen, wenn wir noch zwei Messen dem
zügellosen widersinnigen Geschrei des deutschen Publikums Gehör geben“,
das „deutsche Original-Charaktere“ fordert (ebd., 323) und „Original-Genies
und Original-Werke“ verlangt (ebd., 324). Lichtenbergs sarkastische Replik lau-
tet: „Ich sage, ihr habt Original-Köpfe verlangt, da sind sie zu Tausenden. Es
wimmelt“ (ebd., 325). Den Originalitätsanspruch dieser „in Deutschland allein
an die 2000 Original-Köpfe“ (E 261, ebd., 407) führt Lichtenberg energisch ad
absurdum, etwa wenn er erklärt: „Mich dünkt der Deutsche hat seine Stärke
vorzüglich in Original-Werken, worin ihm schon ein sonderbarer Kopf vorgear-
beitet hat, oder mit anderen Worten er besitzt die Kunst durch Nachahmen
Original zu werden in der größten Vollkommenheit“ und „kann seine Murky
aus allen Tönen spielen, die ihm [ein] ausländischer Original-Kopf angibt“
(E 69, ebd., 357). „Nicht jeder Original-Kopf führt eine Original-Feder, und
nicht jede Original-Feder wird von einem originellen Kopf regiert“ (E 414, ebd.,
434). - Vgl. auch Lichtenbergs ironische „Allegorie auf den gegenwärtigen Zu-
stand der Kritik“, den er im Aphorismus D 214 seiner Sudelbücher facettenreich
im Bildkomplex des Gartenbaus diagnostiziert (ebd., 264-266).
In einem Nachlass-Notat aus der Entstehungszeit von UBI DS zitiert N.
Lichtenbergs Aussage: „Ich weiß, daß berühmte Schriftsteller, die aber im
Grunde seichte Köpfe waren - was sich in Deutschland leicht beisammen fin-
det - bei allem ihren Eigendünkel von den besten Köpfen, die ich befragen
konnte, für seichte Köpfe gehalten worden sind“ (NL 1873, 27 [12], KSA 7, 590).
Eine analoge, allerdings auf die Gelehrten bezogene These Lichtenbergs zitiert
N. ebenfalls in einem nachgelassenen Notat von 1873: „Es giebt in der gelehr-
ten Republik Männer, die ohne das geringste wahre Verdienst ein sehr großes
Aufsehen machen“ (NL 1873, TI [21], KSA 7, 592). - In einem anderen Nachlass-
Notat aus der Entstehungszeit von UB I DS exzerpiert N. eine These Lichten-
bergs, die sich allgemein mit der Vermittlung von Rezeption und Produktion
bei alternden Schriftstellern befasst, um sie dann gegen den Autor David Fried-
rich Strauß zu wenden, den N. hier direkt anspricht: „Sie sagen uns, daß Sie
alt sind. Nun sagt Lichtenberg: ,ich glaube, daß man selbst bei abnehmendem
Gedächtniß und sinkender Geisteskraft noch immer gut schreiben kann, wenn
man nur nicht soviel auf den Augenblick ankommen läßt, sondern bei seinen
Lektüren oder seinen Meditationen, immer wieder schreibt, zu künftigem Ge-
brauche. So sind gewiß alle großen Schriftsteller verfahren/ - Nein, Sie sind
kein alter Mann, denn Sie lassen es auf den Augenblick ankommen!“ (NL 1873,
TI [25], KSA 7, 594).
195, 23-26 Strauss hat noch nicht einmal gelernt, [...] dass Moral predigen eben
so leicht als Moral begründen schwer ist] N. paraphrasiert hier das Motto, das
Schopenhauer seiner Preisschrift über die Grundlage der Moral vorangestellt
 
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