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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0194
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168 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

gie als moralistische Spekulation (196, 23 - 197, 30) und karikiert sie sogar als
„linderndes Universal-Öl Straussens“, der mit seiner Prämisse von der „Ver-
nünftigkeit alles Werdens und aller Naturgesetze“ (198, 22-24) allen gedankli-
chen Herausforderungen ausweiche.
197, 32 - 198,14 „Jenes andere Wort Lessing’s (so heisst es p. 219): Wenn Gott
in seiner Rechten alle Wahrheit, und in seiner Linken den einzigen immer regen
Trieb darnach, obschon unter der Bedingung beständigen Irrens, ihm zur Wahl
vorhielte, würde er demüthig Gott in seine Linke fallen und sich deren Inhalt für
sich erbitten — dieses Lessing’sche Wort hat man von jeher zu den herrlichsten
gerechnet, die er uns hinterlassen hat. Man hat darin den genialen Ausdruck
seiner rastlosen Forschungs- und Thätigkeitslust gefunden. Auf mich hat das
Wort immer deswegen einen so ganz besondern Eindruck gemacht, weil ich hinter
seiner subjectiven Bedeutung noch eine objective von unendlicher Tragweite an-
klingen hörte. Denn liegt darin nicht die beste Antwort auf die grobe Schopenhau-
er’sche Rede von dem übelberathenen Gott, der nichts besseres zu thun gewusst,
als in diese elende Welt einzugehen? Wenn nämlich der Schöpfer selbst auch der
Meinung Lessing’s gewesen wäre, das Ringen dem ruhigen Besitze vorzuzie-
hen?“] Zitat aus Strauß’ ANG 219, 20 - 220, 9. - David Friedrich Strauß zitiert
hier aus der Schrift Eine Duplik von 1778, die Lessing wegen der theologisch
umstrittenen ,Reimarus-Fragmente‘ verfasste, einer nachgelassenen Schrift des
Popularphilosophen Hermann Samuel Reimarus, die durch deistische Konzep-
te und eine weitreichende Bibel- und Kirchenkritik die Fundamente der christ-
lichen Offenbarungsreligion in Frage stellte. (Detaillierter zu den Hintergrün-
den dieser Kontroverse vgl. NK183, 14 - 184, 5 sowie NK 231, 2-5.)
Den ersten Teil seiner Schrift Eine Duplik beendet Gotthold Ephraim Les-
sing folgendermaßen: „Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgend ein Mensch
ist, oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt
hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn
nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erwei-
tern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit
besteht. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz - Wenn Gott in seiner Rechten alle
Wahrheit, und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahr-
heit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen
hielte, und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke, und
sagte: Vater gieb! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!“ (Lessing:
Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 8, 1989, 510). Strukturanalog zu Les-
sings Gegenüberstellung von Wahrheitssuche und vermeintlichem Wahrheits-
besitz erscheint der von N. in den Unzeitgemässen Betrachtungen mehrfach be-
tonte Kontrast zwischen genuiner „Bildung“ und bloßer „Gebildetheit“. Vgl.
dazu NK 161, 2-3.
 
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