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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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Stellenkommentar UB I DS 11, KSA 1, S. 223-224 221

S. 282). Solche expansiven Selbstkonzepte zielen auf eine experimentelle Of-
fenheit des Denkens, die auch das Potential der Sprache erweitert. Über dis-
tinkte Begrifflichkeit, eine strikt fixierte Terminologie, definitorische Setzun-
gen und argumentative Stringenz im Sinne der traditionellen Philosophie weist
die rhythmische Musikalität und Bilderfülle in N.s Sprache hinaus. Die Weise,
wie er dabei das kreative Potential der Metaphorik experimentell einsetzt (vgl.
dazu auch Kapitel II.5 im Überblickskommentar zu UB II HL), entspricht dem
Anschaulichkeitspostulat Schopenhauers, der die Erkenntnisse von Philoso-
phen und Künstlern analogisiert, weil ihnen ein privilegierter Zugang zu essen-
tiellen Dimensionen gemeinsam sei.
Auch in Schopenhauers handschriftlichem Nachlass, dessen gedruckte
Ausgabe von 1864 sich in N.s Bibliothek befand (NPB 543), sind Thesen N.s
antizipiert: Bereits Schopenhauer prognostiziert der Philosophie eine Zukunft,
in der sie den Weg der Wissenschaft verlassen und in die Sphäre der Künste
übertreten wird. Vgl. dazu die Edition Aus Arthur Schopenhauers handschriftli-
chem Nachlaß (1864), 299-304, 317. Einen solchen Sonderstatus nimmt Scho-
penhauer bereits für seine eigene Philosophie in Anspruch: „sie wird eben
Philosophie als Kunst seyn“ (ebd. 301). Den synthetischen Charakter der
Philosophie sieht er darin, dass sie zwar durch die „Erkenntniß der Ideen [...]
der Kunst beizuzählen“ sei, sich zugleich aber durch ihre Begriffsarbeit als
„eine Wissenschaft“ erweise: „eigentlich ist sie ein Mittleres von Kunst und
Wissenschaft“, das „beide vereinigt“ (ebd., 303). - In auffallender Affinität zu
Schopenhauer charakterisiert N. in einem Nachlass-Notat aus der Entstehungs-
zeit von UB I DS die systematische Besonderheit der Philosophie: „Es ist eine
Kunst in ihren Zwecken und in ihrer Produktion. Aber das Mittel, die Darstel-
lung in Begriffen, hat sie mit der Wissenschaft gemein. Es ist eine Form der
Dichtkunst“ (NL 1872-1873, 19 [62], KSA 7, 439). Zu N.s Experimental-Meta-
phorik vgl. Neymeyr 2014a, 232-254 und 2016b, 323-353.
224, 5-6 Eine Mahlzeit, die mit Champagner beginnt.] Hier zitiert N. aus dersel-
ben Passage von Strauß’ ANG, auf die er in UB I DS bereits an früherer Stelle
Bezug nimmt (vgl. 184, 31 - 185, 3). Dort beanstandet er die trivialen Charakte-
risierungen dreier bedeutender Komponisten: Strauß hatte „Haydn mit einer
,ehrlichen Suppe4, Beethoven mit ,Confect‘“ (184, 31-32) und Mozart mit Cham-
pagner verglichen. Die von Strauß hergestellte Korrelation zwischen „Mozart“
und „Champagner“ wird an dieser Stelle von N. nicht explizit referiert. - In
ANG lautet die Referenzstelle in ihrem Kontext so: „Schade, daß man in unsern
Quartettsoireen selten mehr dieses Programm eingehalten findet, daß insbe-
sondre gerade Haydn, der Grund- und Eckstein der Quartettmusik, so gerne
weggelassen wird. Man fängt dann mit Mozart, oder gar gleich mit Beethoven
an, als wollte man eine Mahlzeit mit Champagner und Confect, statt mit einer
 
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