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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0300
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TJk Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

den Erinnerungen gequält, die allein der Tod beende (249-250). Nicht allein
das Glücksstreben als Lebenstrieb verlange „das Vergessen-können“ (250);
auch für die Existenz und das Handlungsvermögen des Menschen generell stel-
le die Fähigkeit zu unhistorischem Empfinden eine notwendige Voraussetzung
dar. So hält es N. für ganz „unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben“
(250).
Nachdem N. die conditio humana von der animalischen Sphäre abgegrenzt
hat, geht er von den anthropologischen Gegebenheiten zur Thematik der „Cul-
tur“ über: Er behauptet, die Dominanz des historischen Sinns, die das Verges-
sen unmöglich mache, schädige die Vitalität des Individuums ebenso wie die
„plastische Kraft [...] eines Volkes, einer Cultur“ (251), die für Wachstum
und Heilung sowie für Assimilation und Transformation fremder Einflüsse nö-
tig sei. N. konstatiert: „in einem Uebermaasse von Historie hört der Mensch
wieder auf“ (253). Diese These begründet er durch „ein allgemeines Gesetz“:
„jedes Lebendige kann nur innerhalb eines Horizontes gesund, stark und
fruchtbar werden“ (251), der eine Balance zwischen dem Historischen und dem
Unhistorischen ermöglicht (252). In der „umhüllenden Atmosphäre“ des Unhis-
torischen (252) sieht N. die notwendige Entstehungsbedingung von vitaler
Energie und kreativer Tatkraft in Kunst und Politik (253), mithin auch die Basis
für „jedes grosse geschichtliche Ereigniss“ (254). Zugleich sei „diese unhistori-
sche Atmosphäre“ (254) erforderlich, um den „überhistorischen Stand-
punkt“ einnehmen zu können (254), der eine Relativierung geschichtlicher Zu-
sammenhänge durch die Einsicht in ihre subjektiven Voraussetzungen erlaube.
Anschließend differenziert N. zwischen zwei Grundtypen: zwischen den
„historischen Menschen“ und den „überhistorischen Menschen“ (255). Wäh-
rend die „historischen Menschen“ die Retrospektive in die Vergangenheit wäh-
len, um ihre Zukunftshoffnung zu stimulieren und den Sinn ihrer gegenwärti-
gen Existenz prozessual zu begreifen (255), orientiert sich der „überhistorische
Mensch“ nicht an Entwicklungsprozessen. Weil er überall nur die „Allgegen-
wart unvergänglicher Typen“ von „ewig gleicher Bedeutung“ sieht (256), er-
scheinen ihm Vergangenheit und Gegenwart als nahezu identisch, so dass er
aufgrund von „Uebersättigung“ an Langeweile, Resignation oder „Ekel“ leiden
kann (256). Mit diesem Typus des überhistorischen Menschen, der sich mit ei-
ner Wiederholung des Ewiggleichen konfrontiert sieht, scheint N. bereits den
„Ring der Wiederkunft“ (KSA 4, 287-291) vorwegzunehmen: die Lehre, die er
später durch Zarathustra verkünden lässt. Auch hier führt der Prozess unendli-
cher Repetition zunächst in ein Übergangsstadium des Ekels, das N. dann je-
doch umkodiert und positiv zu deuten versucht. Im 9. Kapitel der Historien-
schrift exemplifiziert N. eine derartige Konstellation, indem er Eduard von
Hartmanns Vorstellung vom „Weltprozess“ kritisiert (314-319).
 
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