284 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben
6.
Mit der im 5. Abschnitt bereits thematisierten Schwäche oder Stärke der Per-
sönlichkeit verknüpft N. am Anfang des 6. Kapitels (285-295) die Frage, ob der
Anspruch der Geschichtswissenschaft auf historische „Objectivität“ die „Stärke
des modernen Menschen“ signalisiere und zugleich durch ein besonderes „Ver-
langen nach Gerechtigkeit“ bedingt sei (285), oder ob es sich dabei um eine
gefährliche Illusion handle (285-286). Nach N.s eigener Überzeugung kenn-
zeichnet die Gerechtigkeit, die er „zur allerseltensten“ Tugend erklärt (286),
Menschen höchsten Ranges, welche „Wahrheit [...] nicht nur als kalte folgenlo-
se Erkenntniss“, sondern „als Weltgericht“ intendieren (286-287). Ein Wahr-
heitsstreben ohne Urteilskraft und tatkräftigen Willen zur Gerechtigkeit hinge-
gen kann laut N. leicht durch kontraproduktive Impulse kontaminiert werden,
etwa durch Neugier, Eitelkeit, Missgunst, Spieltrieb und Unterhaltungsbedürf-
nis (287).
Implizit kreist das 6. Kapitel um Leopold von Ranke, der ,Objektivität4 zum
Ideal erhoben hatte und als Leitfigur der zeitgenössischen Geschichtswissen-
schaft galt. Indem N. Rankes Objektivitätsideal ins Visier nimmt, greift er auf
eine eigene, schon zwei Jahre vor der Niederschrift von UB II HL notierte Refle-
xion zurück: „Gerade unserer Zeit, mit ihrer sich ,objektiv4, ja voraussetzungs-
los gebärdenden Geschichtsschreibung, möchte ich zurufen, daß diese »Objek-
tivität4 nur erträumt ist, daß vielmehr auch jene Geschichtsschreibung - soweit
sie nicht trockene Urkundensammlung ist - nichts als eine Beispielsamm-
lung für allgemeine philosophische Sätze zu bedeuten hat, von deren
W e r t h es abhängt, ob die Beispielsammlung dauernde oder höchst zeitweilige
Geltung verdient“ (NL 1871, 9 [42], KSA 7, 288).
Dieser Ansatz bestimmt das ganze 6. Kapitel der Historienschrift. Zwar
nennt N. Ranke hier nicht namentlich, aber unverkennbar zielt er auf ihn, in-
dem er gegen das Postulat der Objektivität polemisiert, von dem „berühmten
historischen Virtuosen“ spricht und dann sogar ein Ranke-Zitat in den Text
einfügt (291). N. selbst plädiert für einen künstlerischen Entwurf von Geschich-
te und distanziert sich damit zugleich deutlich von einem durch Berufung auf
Fakten fundierten positivistischen Anspruch auf »Objektivität4. Dem „histori-
schen Virtuosen der Gegenwart“ konzediert er zwar Empfindungsfülle und
Sensibilität für das Weltgeschehen, aber zugleich sieht er ihn „zum nachtönen-
den Passivum“ depotenziert, das nur noch eine vage Ahnung „jedes originalen
geschichtlichen Haupttones“ vermittle und die Leser zu „weichlichen Genies-
sern“ werden lasse (288).
Um der „Geschichte ihre Bedeutung“ zu verleihen (292), hält es N. folglich
für notwendig, sich der Vergangenheit nicht mit einem Objektivitätsanspruch
6.
Mit der im 5. Abschnitt bereits thematisierten Schwäche oder Stärke der Per-
sönlichkeit verknüpft N. am Anfang des 6. Kapitels (285-295) die Frage, ob der
Anspruch der Geschichtswissenschaft auf historische „Objectivität“ die „Stärke
des modernen Menschen“ signalisiere und zugleich durch ein besonderes „Ver-
langen nach Gerechtigkeit“ bedingt sei (285), oder ob es sich dabei um eine
gefährliche Illusion handle (285-286). Nach N.s eigener Überzeugung kenn-
zeichnet die Gerechtigkeit, die er „zur allerseltensten“ Tugend erklärt (286),
Menschen höchsten Ranges, welche „Wahrheit [...] nicht nur als kalte folgenlo-
se Erkenntniss“, sondern „als Weltgericht“ intendieren (286-287). Ein Wahr-
heitsstreben ohne Urteilskraft und tatkräftigen Willen zur Gerechtigkeit hinge-
gen kann laut N. leicht durch kontraproduktive Impulse kontaminiert werden,
etwa durch Neugier, Eitelkeit, Missgunst, Spieltrieb und Unterhaltungsbedürf-
nis (287).
Implizit kreist das 6. Kapitel um Leopold von Ranke, der ,Objektivität4 zum
Ideal erhoben hatte und als Leitfigur der zeitgenössischen Geschichtswissen-
schaft galt. Indem N. Rankes Objektivitätsideal ins Visier nimmt, greift er auf
eine eigene, schon zwei Jahre vor der Niederschrift von UB II HL notierte Refle-
xion zurück: „Gerade unserer Zeit, mit ihrer sich ,objektiv4, ja voraussetzungs-
los gebärdenden Geschichtsschreibung, möchte ich zurufen, daß diese »Objek-
tivität4 nur erträumt ist, daß vielmehr auch jene Geschichtsschreibung - soweit
sie nicht trockene Urkundensammlung ist - nichts als eine Beispielsamm-
lung für allgemeine philosophische Sätze zu bedeuten hat, von deren
W e r t h es abhängt, ob die Beispielsammlung dauernde oder höchst zeitweilige
Geltung verdient“ (NL 1871, 9 [42], KSA 7, 288).
Dieser Ansatz bestimmt das ganze 6. Kapitel der Historienschrift. Zwar
nennt N. Ranke hier nicht namentlich, aber unverkennbar zielt er auf ihn, in-
dem er gegen das Postulat der Objektivität polemisiert, von dem „berühmten
historischen Virtuosen“ spricht und dann sogar ein Ranke-Zitat in den Text
einfügt (291). N. selbst plädiert für einen künstlerischen Entwurf von Geschich-
te und distanziert sich damit zugleich deutlich von einem durch Berufung auf
Fakten fundierten positivistischen Anspruch auf »Objektivität4. Dem „histori-
schen Virtuosen der Gegenwart“ konzediert er zwar Empfindungsfülle und
Sensibilität für das Weltgeschehen, aber zugleich sieht er ihn „zum nachtönen-
den Passivum“ depotenziert, das nur noch eine vage Ahnung „jedes originalen
geschichtlichen Haupttones“ vermittle und die Leser zu „weichlichen Genies-
sern“ werden lasse (288).
Um der „Geschichte ihre Bedeutung“ zu verleihen (292), hält es N. folglich
für notwendig, sich der Vergangenheit nicht mit einem Objektivitätsanspruch